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Ernste Anliegen: Teilnehmer am Christopher Street Day im Juli in München.

© IMAGO/Wolfgang Maria Weber

Kampf für queere Anliegen geht weiter: Der Christopher Street Day ist mehr als nur eine Party

Es tut sich viel für queere Menschen: Strafrechtverschärfung bei Angriffen und Selbstbestimmungsgesetz. Doch sie leben noch immer gefährlich. Ein Kommentar.

Ist der Christopher Street Day mehr als nur eine Party? Ist nicht schon alles erreicht, wofür queere Menschen gekämpft haben?

Eine halbe Million Menschen erwarten die Veranstalter*innen zu der Parade am heutigen Samstag in Berlin. Sie führt mitten durch die Stadt, endet am Brandenburger Tor. Ministerien und Parteizentralen hissen die Regenbogen- Flagge, in diesem Jahr erstmals auch der Bundestag und der Bundesrat.

Queere Menschen können heiraten, Justizminister Marco Buschmann will Homophobie als strafverschärfenden Faktor im Gesetzbuch verankern, und ein Selbstbestimmungsgesetz soll das diskriminierende Transsexuellengesetz von 1980 ablösen. Queere Menschen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen, könnte man meinen.

Doch diese Fortschritte haben die Gesellschaft noch nicht durchdrungen. 645 Verfahren gab es allein im vergangenen Jahr in Berlin wegen homo- und transphoben Delikte. Lesbisch, schwul, bi, non-binär oder inter zu sein ist vielerorts weiterhin gefährlich.

Prägende Beschimpfungen im Klassenzimmer

Und mit Beleidigungen geht es schon in der Schule los: „Schwuchtel“, „Tunte“, „Kampflesbe“ – laut einer 2020 veröffentlichten Studie haben 96 Prozent der Berliner Lehrkräfte derartige Beschimpfungen schon im Klassenraum gehört. Zugleich gaben 61 Prozent an, nie Unterrichtsmaterial zu benutzen, in dem Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung vorkommen.

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Die Schulzeit, das sind für viele queere Jugendliche noch immer traumatische und verlorene Jahre. Ihr Coming-Out haben sie meist erst kurz vor dem Abschluss. Bei 17 Jahren liegt das Durchschnittsalter laut einer Umfrage des Deutschen Jugendinstituts NRW. 48 Prozent der queeren Jugendlichen berichten der EU-Grundrechteagentur FRA zufolge von Mobbing während der Schulzeit. Die Gefahr, dass sie Suizid begehen, liegt vier bis sechs Mal so hoch wie die ihrer Altersgenoss*innen.

Der Druck ist subtiler geworden

Und die Erfahrungen während der Schulzeit prägen die meisten Menschen fürs Leben. Und dieser Stachel bleibt und wirkt nach: Es bleibt belastend, als nicht „normal“ zu gelten – und es bleibt die Sehnsucht, genau das zu sein. Deshalb haben es die Stereotype der Mehrheitsgesellschaft auch innerhalb der queeren Szene leicht. Das äußert sich etwa in verinnerlichter Homophobie.

Der Druck auf alle, die nicht der Hetero-Norm entsprechen, ist subtiler geworden, aber er ist noch da. Aktuell zeigt er sich gegenüber trans Menschen, denn ihr Kampf ist momentan am sichtbarsten. Er äußert sich, wenn Gegner*innen des Selbstbestimmungsgesetzes von einem „Trend“ zu Trans sprechen oder davon, dass es „hip“ sei, sich als trans zu outen. Wenn sie trans Personen bei ihren abgelegten Namen nennen und über ihre Genitalien spekulieren. Wenn sie die Identität von trans Menschen in Frage stellen.

Der CSD macht sichtbar, dass Identitäten in diversen Gesellschaften fragile Konstrukte sind. Man ist immer vieles, und zwar vieles auf einmal. Und das ist gut so – um es mit einem ehemaligen Regierenden Bürgermeister zu sagen. Normalität oder Leitkultur sind Fiktionen, die an der Realität scheitern oder ihr nur mit einer gehörigen Portion Ignoranz übergestülpt werden können.

Der CSD ist also nicht nur eine Party, er bleibt vorerst weiter eine Demonstration. Von ihm geht eine wertvolle politische Symbolkraft aus. Der Kampf für queere Anliegen ist nicht vorbei.

Adrian Schulz

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