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European Focus #6: Klimaaktivismus in der Bredouille?

+++ (K)ein Sturm im Wasserglas +++ Europas erstes Opfer des Klimawandels +++ 1,3% +++ Grüne Brücken zwischen Ost und West +++ Die extreme Rechte und der „Ökologismus“

Hallo aus Paris,

an schlechten Nachrichten zum Thema Klima mangelt es nicht. Wir werden den wohl wärmsten Herbst aller Zeiten erleben; und dies ist erst der Anfang: Die Vereinten Nationen haben erneut gewarnt, dass wir bis zum Ende des Jahrhunderts auf eine katastrophale Erwärmung von mindestens 2,5 Grad Celsius zusteuern.

Wenige Tage vor der nächsten internationalen Klimakonferenz, die vermutlich wieder einmal ergebnislos verlaufen wird, versuchen wütende und gerade jüngere Aktivisten, uns aus unserer Indifferenz und Resignation aufzurütteln. Dabei kommen radikale Mittel zum Einsatz, sei es Suppewerfen auf Gemälde von Van Gogh, Monet und Vermeer, oder Festkleben auf Autobahnen. 

Während in Westeuropa über solche Aktionen teils kontrovers diskutiert wird, hört man anderswo hingegen kaum davon: „In Ost-Europastan hat Klima wirklich keine Priorität,“ so unser polnischer Kollege nur halb scherzhaft.

Der Radikalismus ist nicht immer sofort sichtbar – und manchmal nicht dort, wo man ihn zunächst erwartet. Wer geht ein höheres Risiko ein? Aktivisten, die sich in Deutschland an ein Gemälde kleben? Oder Menschen, die sich in Rumänien gegen die Holz-Mafia stellen?  

Nelly Didelot, dieswöchige Chefredakteurin

(K)ein Sturm im Wasserglas 

Vor ein paar Monaten durchstöberte ich alte Dokumente und Briefe, die ich auf dem Dachboden meiner Großmutter eingelagert hatte. Dabei fand ich einen Brief aus dem Jahr 2007, den die Assistentin der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel an mich und meine Schwester geschickt hatte.

Er war die Antwort auf einen Aufruf, für den wir in unseren Gymnasien 364 Unterschriften gesammelt hatten. Darin forderten wir die Bundeskanzlerin auf, die Interessen der deutschen Autoindustrie nicht an vorderste Stelle zu setzen, sondern ihr Versprechen zu halten und den Klimaschutz als oberste Priorität zu behandeln. Freundliche Worte waren die Antwort. Uns wurde versichert, wie stark sich Merkel für den Klimaschutz einsetze. Beim Lesen der Antwort konnte man schon damals spüren, wie hohl die Phrasen waren.

Heute wirken sie sogar noch inhaltsleerer, denn wir scheinen Lichtjahre entfernt von adäquatem Klimaschutz. Die Klimakrise hat sich weiter verschärft. Der diesjährigen Oktober war in Deutschland 3,8 Grad Celsius wärmer als der Durchschnitt aller Oktober seit 1881.

Wenn ich die heutigen Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten sehe, erinnere ich mich daran, wie verzweifelt ich mich vor 15 Jahren fühlte. Ich erinnere mich an die schlaflosen Nächte, in denen ich darüber nachdachte, was ich tun könnte, um auf das Problem aufmerksam zu machen. Ich erinnere mich, wie ich beschloss, in meiner Schule eine Konferenz über die Bedrohung durch den Klimawandel zu organisieren. Um wenigstens irgendetwas zu tun.

Ich erinnere mich auch, wie ich wenig später resignierte. Ich merkte, dass sich durch meinen verzweifelten „Aktivismus“ sowieso nichts ändern würde. Dass ich eh nur eine einsame Teenagerin war, die keinerlei Einfluss auf politische Entscheidungen hat.

Für die jungen Aktivisten von heute muss es sich ähnlich anfühlen, nur in deutlich verstärkter Form. Für mich hingegen sind ihre heutigen Aktionen eher eine Erleichterung: Sorgen und eine Auseinandersetzung mit dem Klimawandel sind kein isoliertes Randphänomen mehr. Der aktuelle Kampf für Klimaschutz ist kollektiv organisiert und ist sehr viel wirkkräftiger. Es ist der Kampf einer Generation, die bereit ist, radikalere Mittel einzusetzen, um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen. Das gibt mir ein wenig Hoffnung – auch, wenn die hohlen Phrasen und das Nichthandeln immer noch an der Tagesordnung sind.

Teresa Roelcke ist Journalistin beim Tagesspiegel aus Berlin. 

„Wir werden wohl Europas erstes Opfer des Klimawandels sein“

Juan López de Uralde verließ 2011 seinen Posten als Direktor von Greenpeace Spanien, um die erste grüne Partei des Landes zu gründen. Dies war jedoch nicht von Erfolg gekrönt: heute sind die Grünen in mehrere Fraktionen gespalten.

Starten wir direkt mit dem drängendsten Problem: Wird Spanien das erste Land in Europa, das von den heftigsten Auswirkungen des Klimawandels betroffen ist?

Wir werden innerhalb der EU wahrscheinlich das erste und das verwundbarste Opfer des Klimawandels sein. Nach Angaben der spanischen Meteorologiebehörde hat der Temperaturanstieg hierzulande bereits 1,2 Grad Celsius erreicht. Das hat Auswirkungen auf Waldbrände, auf den Wassermangel, auf die Ausbreitung von Dürregebieten und vieles mehr. Das größte Problem ist, dass unsere Passivität irgendwann ihren Tribut fordert – wie wir schon seit Langem warnen.

Ich komme aus Córdoba und kann mich an die letzten Sommer mit Spitzentemperaturen von 47 Grad sowie an einige Jahre mit Wasserrationierung erinnern. Das Bewusstsein für die direkten Auswirkungen der Klimakatastrophe ist in Spanien da. Dennoch gibt es keine Grüne Partei und auch keinen sonderlich starken Umweltaktivismus. Warum?

Wir haben es versucht, allerdings erfolglos. Es gibt dabei drei Hauptprobleme: Erstens, der Mangel an Ressourcen. Zweitens, das spanische Wahlsystem, das kleine Parteien benachteiligt. Drittens gibt es im Vergleich zu anderen europäischen Ländern keine starke gesellschaftliche Unterstützung für grüne Anliegen. Ja, das Bewusstsein ist gewachsen, aber die Klimafrage ist noch kein entscheidender Faktor bei der Wahlentscheidung. Das ist der Hauptunterschied zu anderen Ländern in Europa. Wirtschafts- oder beschäftigungspolitische Probleme sind hier wichtiger.

Sie selbst saßen im Gefängnis, nachdem sie 2009 mit einem Transparent eine Klimakonferenz (COP) gestürmt hatten. Aktuell bewerfen junge Aktivisten Gemälde von Van Gogh mit Suppe. Müssen spanische Aktivisten noch radikaler werden, um gehört zu werden?

Wir haben uns damals direkt an diejenigen gewandt, die das Problem verursacht haben. Ich respektiere auch, was die heutigen Aktivisten tun. Es ist ein Hilferuf der jungen Generation. In Spanien gibt es übrigens einen weiteren Aspekt, den wir bisher noch nicht erwähnt haben: Die bisher größten Klimamobilisierungen fanden rund um die COP25 (in Madrid) statt, kurz vor der Pandemie. Inzwischen beginnen auch einige große Parteien, die Klimathematik aufzugreifen. Wie weit sie dabei gehen, bleibt freilich abzuwarten. Wenn zu wenig passiert, wird der Aktivismus zunehmen.

Alicia Alamillos ist Journalistin mit Fokus auf internationale Nachrichten bei El Confidencial aus Madrid.

Zahl der Woche: 1,3 Prozent

Laut aktuellen Umfragen würden lediglich 1,3 Prozent der estnischen Wahlberechtigten ihre Stimme den Grünen geben. In Estland gilt eine Fünfprozenthürde, sodass es unwahrscheinlich erscheint, dass die Grünen nach den Wahlen im März 2023 im kommenden Parlament vertreten sein werden.

Viele Beobachter führen die niedrigen Zustimmungswerte darauf zurück, dass die Partei kein umfassendes politisches Programm hat, das über das Thema Umwelt hinausginge. Indes zeigt eine andere Umfrage, dass 71 Prozent der Esten gerne umweltfreundlicher leben würden. Sie geben allerdings auch an, dass finanzielle Engpässe und geltende Gesetze eine solche Umstellung nicht zulassen. 

Bei einem solchen Selbstbild ist es überraschend, dass sich die Sorge um die Umwelt nicht in politische Unterstützung niederschlägt. Kann man der Grünen Partei dafür allein die Verantwortung geben, oder sollte zunächst einmal selbst in den Spiegel sehen?

Kristin Kontro berichtet für Eesti Päevaleht über Klima- und Umweltthemen.

Grüne Brücken zwischen Ost und West schlagen

Im Herbst vergangenen Jahres drehten ein Umweltaktivist und zwei Journalisten eine Dokumentation über die Abholzung der rumänischen Wälder. Bei einem Dreh wurden sie angegriffen, verprügelt und mit dem Tod bedroht. Es handelte sich dabei um dutzende Angreifer, doch die Polizei konnte nur vier festnehmen. Darunter waren Angestellte der nationalen Forstverwaltung, die mit staatlichen Geldern für den Schutz der Wälder bezahlt werden.

Dies ist nur die Spitze des Eisbergs, ein kleiner Einblick in die Realität, mit der Aktivisten in Rumänien konfrontiert sind. Kein Wunder, dass ihre Aktionen meist zum Scheitern verurteilt sind. Die Unterstützung von Aktivisten aus Westeuropa könnte in dieser Hinsicht von entscheidender Bedeutung sein. Das zeigt das Beispiel des Goldminenprojekts „Rosia Montana Gold Corporation“. Diese milliardenschwere Auslandsinvestition im rumänischen Apuseni-Gebirge wurde nach einem fast 20-jährigen Kampf gestoppt. Mitgrund für diesen Erfolg war die Zusammenarbeit zwischen rumänischen und internationalen Aktivistengruppen.

Laut offiziellen Statistiken wird geschätzt, dass in Rumänien jedes Jahr durchschnittlich 20 Millionen Kubikmeter Holz illegal geschlagen werden. Greenpeace Rumänien kommentiert dazu: „Die lokalen Rechtsvorschriften versagen beim Naturschutz, selbst wenn rechtliche Schritte eingeleitet werden.“

Einige NGOs versuchen, die EU zu mehr Waldschutz zu bewegen. Es würde allerdings viele Jahre dauern, bis diese Maßnahmen Wirkung zeigen – wenn überhaupt. In Rumänien gibt es jedenfalls keinen wirklichen politischen Willen, sie umzusetzen.

Dabei ist das Land eigentlich in einer guten Ausgangsposition: Während man in Westeuropa versucht, einzelne Landstriche wieder zu bewalden, müsste in Rumänien lediglich das geschützt werden, was noch vorhanden ist, nämlich die mehr als 500.000 Hektar Urwälder und Altbestände. So viel Urwald gibt es in keinem anderen Land der Europäischen Union. Unsere Biodiversität ist einzigartig. Wir müssen die gesamte Bevölkerung sensibilisieren, wenn wir Korruption verhindern und die Wälder schützen wollen, und zwar mit Hilfe einer starken Zivilgesellschaft.

Wo rumänischen Aktivisten das Wissen oder die Tools fehlen, könnten westliche Verbündete mit an die rumänische Realität angepassten Strategien Unterstützung bieten. Eine solche Brücke, die zwischen dem Westen und dem Osten gebaut werden muss, ruht auf unterschiedlichen Fundamenten an entgegengesetzten Ufern ein und desselben Flusses. Es braucht eine einzigartige Struktur, um die beiden Seiten zusammenzubringen.

Kinga Korondi ist freie Journalistin aus Târgu Mureș in Rumänien. Sie berichtet über Sozial- und Umweltthemen.

Die extreme Rechte und der „Ökologismus“

„Uns ist bewusst, dass jungen Menschen der Schutz der Umwelt besonders am Herzen liegt. Das werden wir aufgreifen. Denn, wie Roger Scruton, einer der großen Meister des europäischen konservativen Denkens, schrieb: ‚Die Ökologie ist das lebendigste Beispiel für das Bündnis zwischen denen, die hier waren, und denen, die nach uns kommen werden.‘“

In ihrer ersten Parlamentsrede als italienische Ministerpräsidentin räumte Giorgia Meloni mit diesen Worten ein, dass das Thema Klimawandel auch für sie unausweichlich ist. Indem sie sich auf rechte Ideologen wie Roger Scruton beruft, manipuliert sie das Thema jedoch, um umweltschädliche Maßnahmen vorzuschlagen. So lehnt ihre Partei den Europäischen Green Deal explizit ab und bezeichnet Klimaaktivisten gerne als gretini (eine Kombination aus „Greta“ – der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg – und „cretini“ – Idioten). 

Da die rechtsextreme Partei Fratelli d‘Italia nun an der Regierung ist, nutzt Meloni den rechten „Ökologismus“, um für die Idee einer „Natur mit dem Menschen darin“ einzutreten, wie sie sagte.

Letztendlich bedeutet das: Sie wird das „Recht“ der Konzerne verteidigen, die Umwelt im Interesse der Produktivität weiter zu belasten.

Francesca De Benedetti berichtet für die Zeitung Domani aus Rom über europäische Politik und Auslandsnachrichten.

Danke, dass Sie die sechste Ausgabe von European Focus gelesen haben!

Die dieswöchige Ausgabe ist von sieben Frauen geschrieben und zusammengestellt worden. Das ist wenig überraschend: In unseren Medien ist das Thema Klima fest in der Hand der Journalistinnen. Ebenso sind Klimaaktivistinnen häufiger weiblich – wohingegen die in Zeitungen zitierten Experten meist Männer sind. Gibt es hier einen Gender-Bias wie in so vielen anderen Feldern auch? Vielleicht können wir uns in einer zukünftigen Newsletter-Ausgabe mit dieser Frage befassen. 

Bis nächste Woche! 

Nelly Didelot

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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