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Boris Johnson.

© REUTERS/Dylan Martinez

„Wir wollen den Leuten nicht ihre Partys vermiesen“: Johnson ignoriert Rat der Experten – um welchen Preis?

Die Zahl der Omikron-Infektionen in Großbritannien schießt in die Höhe. Die Bevölkerung ist verängstigt, doch die Regierung will keinen Lockdown.

Die von Premier Boris Johnson vorhergesagte „Omikron-Flutwelle“ trifft in Großbritannien auf eine geschwächte und uneinige Regierung. Das konservative Kabinett verweigerte sich am Sonnabend einem Mini-Lockdown, wie ihn die eigenen Wissenschaftsberater empfehlen. Hingegen fordert die Opposition größere Härte im Kampf gegen Sars-CoV-2. Die zunehmend verängstigte Bevölkerung beherzigt längst Vorsichtsmaßnahmen: Die Innenstädte sind verwaist, Geschäfte, Theater und Restaurants klagen über massiven Umsatzrückgang.

Nach Schätzungen der Epidemiologen machen Infektionen mit der Omikron-Mutation mittlerweile mehr als die Hälfte aller Ansteckungen auf der Insel aus. Diese sind zuletzt um 67 Prozent in die Höhe geschnellt und liegen auf einem Rekordhoch von mehr als 90.000 Fällen täglich.

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Im Wochendurchschnitt starben zuletzt jeden Tag 112 Menschen innerhalb eines Monats nach ihrem positiven Covid-Test. Zum Vergleich: Das um 22 Prozent bevölkerungsreichere Deutschland hatte im gleichen Zeitraum zuletzt täglich 375 Corona-Tote zu beklagen, also deutlich mehr als dreimal soviel.

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Gesundheitsminister Sajid Javid bezifferte die Zahl der Krankenhaus-Patienten mit Omikron auf englandweit 85; erste Zahlen aus Südafrika nährten die Hoffnung, der Krankheitsverlauf könne milder ausfallen als bei der bisher vorherrschenden Delta-Variante und deshalb weniger Spital-Einweisungen nötig machen.

Hingegen lässt eine erste Studie am Londoner Imperial College diesen Schluss nicht zu, wie Professor Azra Ghani den britischen Medien erläuterte. Zudem müsse man angesichts der schieren Anzahl von Covid-Patienten mit „einer großen Anzahl von Menschen rechnen, die der Pflege im Krankenhaus bedürfen“.

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Dieses würde zu täglichen Todeszahlen von mehrere Tausend führen. Auf dem Höhepunkt der Corona-Welle im Januar starben auf der Insel 1820 Menschen täglich an den Folgen ihrer Corona-Infektion. Ghani wies aber auch auf die bisher mangelnde Datensicherheit hin: Seine Studie stelle „einen Hinweis auf die Notwendigkeit raschen Handelns, keine Prognose“ dar.

Auf zwei Wochen begrenzter Lockdown notwendig

Ähnlich argumentierten Chef-Wissenschaftsberater Patrick Vallance sowie der höchste Gesundheitsbeamte Englands, Christopher Whitty. Angesichts der jüngsten Entwicklung sei ein auf zwei Wochen begrenzter Lockdown („Circuit breaker“) notwendig. Das Kabinett verweigerte sich dem Rat. Javid nannte die vorgelegten Zahlen am Sonntag „ernüchternd“; vor einer so weitreichenden Entscheidung müsse die Regierung aber viele andere Faktoren abwägen. Premier Johnson will um fast jeden Preis weitere Einschränkungen zu Weihnachten vermeiden. „Wir wollen den Leuten nicht ihre Partys vermiesen“, so der Regierungschef.

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Die Einstellung ist nicht nur Johnsons libertärem Instinkt, sondern auch seiner geschwächten Position geschuldet. Am Dienstag verweigerten mehr als 100 Hinterbänkler der eigenen Regierung die Zustimmung zu Maßnahmen wie dem verpflichtenden Maskentragen in geschlossenen Räumen sowie der 3G-Regelung bei Großveranstaltungen. Staatsminister David Frost, als Brexit-Chefverhandler bekanntgeworden, legte seinen Posten am Samstagabend mit der Begründung nieder, auch er könne diese milden Einschränkungen nicht mehr mittragen. „Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben“, schrieb der 56-Jährige in seinem Rücktrittsbrief an Johnson.

Leeres London. Die Bevölkerung hält sich von sich aus zurück.

© dpa

Die Glaubwürdigkeit der Regierung leidet außerdem unter immer neuen Enthüllungen über die laxe Einstellung gegenüber den Corona-Bestimmungen, die Beamte und Parteifunktionäre in London im vergangenen Winter an den Tag legten. Mehrere Weihnachtspartys in der Downing Street sowie dem Bildungs- und Finanzministerium sollte eigentlich der höchste Beamte des Landes untersuchen. Am Freitag aber musste Simon Case die unerfreuliche Aufgabe an eine Kollegin abtreten: In seiner eigenen Abteilung hatten Beamte ebenfalls gefeiert – zu einem Zeitpunkt, als soziale Zusammenkünfte gesetzlich verboten waren.

Opposition macht nun Druck auf Regierung

Die Opposition macht nun Druck auf die Regierung, rasch dem Rat der Wissenschaftler zu folgen. Die Labour-geführte Regionalregierung von Wales sowie die Edinburgher Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon von den schottischen Nationalisten haben weitere Corona-Einschränkungen angeordnet oder angekündigt.

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In der Hauptstadt London, dem Omikron-Epizentrum, rief Labour-Bürgermeister Sadiq Khan am Sonnabend den Katastrophenfall aus. Die weitgehend symbolische Geste erleichtert immerhin, dass besondere Notfallpläne in Kraft treten und zusätzliches Personal aus anderen Landesteilen zu Hilfe gerufen werden kann. Das Personal bei Polizei, Feuerwehr und im nationalen Gesundheitssystem NHS ist durch die „außerordentlich besorgniserregende Omikron-Entwicklung“, so Khan, ausgedünnt. Nach einer Weihnachtsfeier wurde kürzlich die Abteilung für ambulante Eingriffe am Süd- Londoner King’s Hospital außer Gefecht gesetzt: Offenbar hatte ein infizierter Gast ausgereicht, „um alle anderen anzustecken“, berichtet ein Angestellter.

Die Londoner Zivilgesellschaft schränkt sich auch ohne Regierungsanordnungen ein. Der Friseursalon „Open Barbers“ im Ost-Londoner Stadtteil Shoreditch wandte sich am Freitag mit einem Appell an die queere Kundschaft: Um Team und Klienten vor einer Omikron-Ansteckung zu schützen, schließe man sofort und bis in den Januar die Tür; als Ausgleich für das entgangene Vorweihnachts- Geschäft bitte man um Spenden. Schon zwei Tage später schrieben das Leitungsduo Greygory und Toddy voller Begeisterung: Das Spendenziel von umgerechnet 2124 Euro sei erreicht. „Ihr seid unglaublich! Wir wünschen uns, dass Leute wie Ihr das Land regieren.“

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