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© AFP/AMMAR SULEIMAN

Was der Ukrainekrieg für Syrien bedeutet: „Es droht eine ernsthafte regionale Eskalation“

Die Nahost-Expertin Muriel Asseburg über die Wiederaufnahme des Landes in die Arabische Liga, neue Giftgasarsenale Assads und Moskaus Interessen.

Frau Asseburg, Russland hat durch sein Eingreifen in den Syrienkonflikt das Regime von Baschar al-Assad gestützt. Nun aber kämpft es seit über einem Jahr einen militärisch auszehrenden Angriffskrieg gegen die Ukraine. Wird Russland seinen Einfluss in Syrien noch lange ausüben können?
Was man sicher sagen kann: Auch für Russland ist der Syrienkonflikt durch den Ukrainekrieg in den Hintergrund getreten. Das heißt aber nicht, dass Russland Damaskus bald fallen lässt. Zwar hat es seine Truppenstärke, die ohnehin nicht groß ist, dort reduziert. Aber Moskau hat durchaus ausreichend militärische Kapazitäten, seine Stellung zu halten. Möglich ist das auch durch die Kooperation mit dem Iran, aus der Russland ja auch in der Ukraine Nutzen zieht, sowie einer Vielzahl von Milizen.

Ist das Risiko eines Flächenbrandes in der Region trotzdem gestiegen?
Ich benutze das Wort nicht so gerne. Die Konflikte sind ja menschengemacht. Dennoch: Es gibt in dieser Region permanent ein hohes Eskalationsrisiko, weil sich die verschiedensten Konfliktdimensionen verbinden und überlagern können. In Syrien geht es ja schon lange nicht mehr um das, womit alles begonnen hat: einen Aufstand gegen das repressive Assad-Regime, der schnell in einen internationalisierten Bürgerkrieg eskaliert ist. Längst sind außer Russland auch andere ausländische Mächte militärisch involviert: die USA, die Türkei, der Iran und Israel. Sie alle haben eine militärische Präsenz, die meisten unterstützen zudem unterschiedliche Gewaltakteure vor Ort, um ihre jeweils eigenen Interessen zu verfolgen.

Lange hieß es, Syrien sei für Putin ein militärischer Testballon.
Das mit dem Testballon würde ich nur teilweise unterschreiben. Es stimmt, dass Russland in Syrien neue Waffensysteme getestet hat. Aber dass Syrien eine Blaupause für die Ukraine gewesen sein soll, sehe ich nur teilweise. Es gibt da zu viele Unterschiede – vor allem ist Russland vom Regime eingeladen worden, und es gab das gemeinsame internationale Interesse, gegen den sogenannten Islamischen Staat zu kämpfen. Außerdem hat Russland schon vorher in seinem direkten Umfeld Kriege geführt. So zynisch es klingt: Wenn man den Tschetschenien-Krieg und Grosny hatte, braucht man kein Aleppo mehr, um zu wissen, wie man eine Stadt in Schutt und Asche bombt und Menschen aushungert.

Wenn man den Tschetschenien-Krieg und Grosny hatte, braucht man kein Aleppo mehr, um zu wissen, wie man eine Stadt in Schutt und Asche bombt und Menschen aushungert.

Muriel Asseburg

Welche Interessen sind es dann, die Russland in Syrien verfolgt?
Es geht vor allem um Geostrategie. Russland möchte durch seine Militärbasen in Syrien seine Präsenz in der Mittelmeerregion ausbauen. Es geht auch darum, seinen Großmachtanspruch zu untermauern: Ohne oder gegen Russland soll in Konflikten wie diesem kein Fortschritt mehr möglich sein. Außerdem war Moskau wichtig, deutlich zu machen: Wir stehen zu unseren Freunden, während die Amerikaner im Arabischen Frühling viele Verbündete in der Region im Stich gelassen haben.

Ein syrisches Kind wird 2018 nach einem mutmaßlichen Giftgasangriff auf das Dorf Al-Shifuniyah behandelt.

© AFP/HAMZA AL-AJWEH

Auf Wirken Russlands hat Syrien 2013 sein Chemiewaffenprogramm eingestellt und seine Bestände vernichtet. Muss Russlands Einfluss auch positiv bewertet werden?
Das war tatsächlich ein Erfolg. Unmittelbar nach einem Einsatz von Chemiewaffen durch Assad hat Moskau vermittelt, dass Syrien dem Chemiewaffenabkommen beitritt – und damit auch eine militärische Reaktion der USA verhindert. Es bestehen allerdings Zweifel daran, dass damals wirklich alle Bestände deklariert und vernichtet worden sind. Und es gibt Hinweise, dass seither womöglich neue Bestände aufgebaut wurden.

Statt im multilateralen Rahmen nach einer Lösung zu suchen, haben Russland, Iran und die Türkei das Land in Einflusszonen aufgeteilt. 

Muriel Asseburg

Zudem hat Russland den sogenannten Astana-Prozess initiiert, der ab 2017 zu einer schrittweisen Beruhigung geführt hat.
Das russische Engagement ist hier hochambivalent. Tatsächlich ist es ein Erfolg, dass das Level an Gewalt enorm gesenkt wurde – natürlich erst nach den massiven Militäreinsätzen zur Unterwerfung der Opposition 2015/16. Seit 2020 hält auch im Norden weitgehend ein von Moskau vermittelter Waffenstillstand. Moskau ist es aber nicht gelungen, eine Konfliktregelung zu erwirken. Der Versuch, einen Verfassungsprozess auf den Weg zu bringen, ist ebenso gescheitert. Obendrein hatte das Astana-Format den negativen Nebeneffekt, dass die UN-Friedensbemühungen unterminiert wurden. Statt im multilateralen Rahmen nach einer Lösung zu suchen, haben Russland, Iran und die Türkei das Land in Einflusszonen aufgeteilt.

Die Frontlinien sind seither weitgehend eingefroren, es gibt nur noch kleinere Scharmützel. Ist eine wirkliche Lösung des Konflikts durch den Ukrainekrieg in noch weitere Ferne gerückt?
Ja, ich denke, das muss man so sagen. Der Krieg in der Ukraine hat die Interessenskonvergenz zwischen Iran und Russland vergrößert; eine Kooperation zwischen Westen und Russland bei der Konfliktregelung in Syrien ist kaum mehr vorstellbar. Gleichzeitig ist aber auch an anderer Front wieder Bewegung in die Situation gekommen: Die Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Iran im März dieses Jahres und die Vermittlungsbemühungen Moskaus zwischen Ankara und Damaskus dürften stabilisierend wirken. Eine Konfliktregelung bleibt dennoch aufgrund widerstreitender Interessen schwierig.

Scheinbar hyperkomplex und eingefroren – ist es verständlich, dass die deutsche Öffentlichkeit so einen Konflikt weitgehend aus dem Blick verliert?
Natürlich hat sich in Deutschland die Prioritätensetzung aufgrund des Kriegs in der Ukraine verändert. Damit gibt es auch weniger Aufmerksamkeit für Konflikte wie den in Syrien. Die Komplexität ist dabei nur ein Faktor. Wichtiger scheint mir, dass es die Europäer schon vor Langem aufgegeben haben, die Dynamiken aktiv mitgestalten zu wollen. Dadurch ist Syrien hierzulande im Wesentlichen ein Thema der humanitären Hilfe – ein Elend unter vielen Elenden in der Welt – und kein Thema, bei dem aktiv an politischen Perspektiven gearbeitet wird.

Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, der Konflikt betreffe uns nicht mehr, bloß weil wir wegsehen. 

Muriel Asseburg

Welche gefährlichen Entwicklungen übersehen wir?
Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, der Konflikt betreffe uns nicht mehr, bloß weil wir wegsehen. Auch wenn es regional eine Annäherung an Damaskus gibt, so gibt es ein hohes Risiko von Destabilisierung und militärischer Eskalation. Dazu gehört etwa die auch in Syrien ausgetragene militärische Konfrontation zwischen Israel und Iran: Israel fliegt unter anderem Angriffe gegen die vom Iran unterstütze Hisbollah-Miliz in Syrien; Iran greift israelische Schiffe an. Derweil hat die Biden-Administration durch ihr gemeinsames Manöver mit Israel noch einmal die enge Verbundenheit mit Israel unterstrichen. Das kann durchaus auch so gelesen werden, dass sie einem israelischen Militärschlag gegen das iranische Atomprogramm gar nicht mehr so ablehnend gegenübersteht wie zu Zeiten, zu denen sie noch Hoffnung auf ein neuerliches Atomabkommen mit Iran hatte. Damit droht eine ernsthafte regionale Eskalation, die sich zudem noch mit der Zuspitzung der Lage zwischen Israelis und Palästinensern verbinden könnte.

Wie ist Syrien heute aufgeteilt?
Knapp zwei Drittel stehen unter Kontrolle der Regierung, etwa ein Viertel unter Kontrolle der kurdisch dominierten Selbstverwaltung, zehn Prozent unter direkter und indirekter Kontrolle der Türkei – wobei diese Territorien noch mal unterteilt sind in diejenigen, die durch die sogenannte Syrische Nationale Armee kontrolliert werden, die man als reine Stellvertreter der Türkei sehen kann, und dem größten Teil der Provinz Idlib, das von radikalen Islamisten kontrolliert wird. Dabei gilt letztlich für alle lokalen militärischen Akteure, dass sie sich nur aufgrund von Unterstützung aus dem Ausland halten können.

Hauptziel der Amerikaner war es, mithilfe der Kurden den IS zu eliminieren. Warum sind sie nach dessen weitgehender Niederschlagung noch präsent?
Zum einen ist der IS ist zwar territorial besiegt, aber er hat durchaus noch schlagkräftige Strukturen. Zum anderen zwingt die US-Präsenz die Türkei zu einem gemäßigteren Vorgehen im Norden Syriens und bietet der kurdisch dominierten Selbstverwaltung ein gewisses Maß an Schutz. Bei ihrer Annäherung können auch Damaskus und Ankara keinen Deal zulasten der Kurden umsetzen, solange die USA präsent sind. Außerdem gilt: Wer bei einer späteren Konfliktregelung mitreden will, muss vor Ort präsent sein.

Man wird sich dann auch wieder mit den tiefer liegenden Ursachen dieser Katastrophe beschäftigen müssen. Welche waren das?
Die Proteste 2010 hatten politische und sozioökonomische Gründe. Syrien war und ist ein äußerst repressives System, das seinen Bürgerinnen und Bürgern politische Freiheiten verwehrt und sie mit Polizeiwillkür terrorisiert. Außerdem hatte es seit den 1990er Jahren eine teilweise wirtschaftliche Liberalisierung gegeben, die zu eklatanter Ungleichheit geführt hatte. Denn im Zuge der Privatisierung fiel das Gros des ehemaligen Staatseigentums in die Hände der politischen Klasse. Plötzlich sah man eine Menge westlicher Autos und eine Elite, die in schicken Cafés Cappuccino trank. Zugleich gab es eine massive Verelendung. Die soziale Schere klaffte immer weiter auseinander. Und das zu einem Zeitpunkt, als die Klimakrise Syrien bereits massive Probleme bereitete.

In welcher Form?
Von 2006 bis 2010 gab es eine starke Dürre. Im Norden des Landes, dem Brotkorb Syriens, verdorrten die Ernten, Vieh kam um. Hunderttausende Bauern flüchteten in die Städte, wo sie sich in Elendsvierteln wiederfanden. Dabei war die Dürre eine Folge des Klimawandels, aber auch von verfehlter Landwirtschaftspolitik. Und genau in dem Moment, in dem die Bauern dringend Unterstützung gebraucht hätten, hat man rücksichtslos Subventionen abgebaut.

Syrien wurde Anfang Mai wieder in die Arabische Liga aufgenommen. Für Diktator Assad ist das vor allem symbolisch wichtig.

© REUTERS/SANA

Inwiefern hat sich Assads Machtstellung durch die Wiederaufnahme Syriens in die Arabische Liga gefestigt? Eine Anerkennung durch den Westen bedeutet das ja noch lange nicht.
Die Wiederaufnahme ist vor allem symbolisch wichtig: Der Diktator Assad wird bei Treffen wieder mit am Tisch sitzen – trotz vermuteter Kriegsverbrechen und obwohl er bislang keine Zugeständnisse gemacht hat, wie sie etwa zuvor noch in der Erklärung von Amman am 1. Mai dieses Jahres gefordert worden waren. Fortschritte bei der Konfliktregelung sind in Folge nicht zu erwarten. Aber es ist auch unwahrscheinlich, dass die arabischen Golfstaaten nun massiv in den Wiederaufbau Syriens investieren – oder dass es ihnen gelingt, die USA oder die EU davon zu überzeugen, die Sanktionen auszusetzen.

Das Regime setzt auf Drogenproduktion und -schmuggel, was in den Nachbarländern für viel Unmut sorgt.

Muriel Asseburg

Was kann in dieser verfahrenen Situation politisch und diplomatisch getan werden?
Deutschland und Europa spielen politisch keine entscheidende Rolle. Durch die bedingungslose Normalisierung Assads seitens arabischer Staaten ist der potenzielle Einfluss noch weiter gesunken. Die Europäer sollten aber zumindest ihren Ansatz der Unterstützung überdenken, der nicht geeignet ist, die humanitäre Lage effektiv anzugehen. Die Wirtschaft des Landes ist völlig am Boden. Selbst in den Gegenden, die als Zentren der Regimetreuen gelten, kommt es aufgrund der katastrophalen Lage zunehmend zu Protesten. Das Regime setzt auf Drogenproduktion und -schmuggel, was in den Nachbarländern für viel Unmut sorgt.

Mit mehr Engagement würde man das Assad-Regime weiter stabilisieren.
Ich würde das nicht so schwarz-weiß sehen. Richtig ist: Gemeinsam mit Assad einen umfassenden Wiederaufbau anzugehen, wäre völlig fehlgeleitet – nicht nur wegen seiner Kriegsverbrechen, sondern auch, weil seine Politik nicht zu einer nachhaltigen Entwicklung und Befriedung führt. Aber Europa könnte sehr viel mehr tun im Bereich der Rehabilitierung von Basisinfrastruktur und beim Wiederaufbau, vor allem in den Gebieten, die von der Opposition kontrolliert werden. Abzuwarten und auf einen Zusammenbruch des Regimes zu hoffen, ist falsch und gefährlich. Wir müssen dringend kreativer werden, etwa in dem wir helfen, Brücken zwischen den Gebieten unter unterschiedlicher Kontrolle aufzubauen und so die Grundlage für eine funktionierende Wirtschaft und Koexistenz zu schaffen.

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