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Doris König (r.), Vorsitzende des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, mit Richterin Astrid Wallrabenstein, Berichterstatterin in dem Verfahren.

© dpa/Bernd Weißbrod

Was ist ein Freispruch wert?: In Karlsruhe steht die Gerechtigkeit vor Gericht

Seit Mittwoch verhandelt das Bundesverfassungsgericht über die Möglichkeiten zur Wiederaufnahme von Strafprozessen – und zeigt sich skeptisch zur jüngsten Reform.

Die Vergewaltigung von Frederike von Möhlmann und der Mord an ihr liegen fast vierzig Jahre zurück, doch reichen die Taten bis in die Gegenwart. Denn noch immer konnte kein Mörder der damals 17 Jahre alten Schülerin verurteilt werden, noch immer leiden ihre Angehörigen.

Ein Verdächtiger wurde 1983 freigesprochen, aus Mangel an Beweisen. Jetzt, wo es neue Beweise gibt, soll er erneut vor Gericht und wehrt sich dagegen mit einer Verfassungsbeschwerde. Hat er Erfolg, bleibt er ein freier Mann, der als unschuldig zu gelten hat. Scheitert er, wird der Prozess gegen ihn wohl fortgeführt – mit Folgen bis zu lebenslanger Haft.

Auch wenn es sich um eine Tat handelt, die die Öffentlichkeit nach wie vor bewegt und für die Angehörigen des Opfers noch immer äußerst schmerzhaft ist, muss sie bei der Beantwortung der vom konkreten Fall losgelösten verfassungsrechtlichen Fragen in den Hintergrund treten.

Gerichtsvizepräsidentin Doris König über den Mord an Frederike von Möhlmann

Es steht also etwas auf dem Spiel in dem Fall, den das Bundesverfassungsgericht seit Mittwoch verhandelt. Für den Verdächtigen seine Freiheit, für den Rechtsstaat – ja, was? Seine Glaubwürdigkeit? Seine Leistungsfähigkeit?

Wie am Mittwoch deutlich wurde, scheint es das Gericht selbst noch nicht so genau zu wissen. Es seien „bisher nicht geklärte grundsätzliche Rechtsfragen“ zu beantworten, sagte die Vorsitzende des Zweiten Senats Doris König, die zugleich Vizepräsidentin des Gerichts ist. So tiefgehend wie jetzt haben sich die Richterinnen und Richter in Karlsruhe noch nicht mit der Rechtskraft von Strafurteilen befasst. Es gab schlicht keinen Anlass dafür.

30 Jahre nach der Tat kam man dem Mann wortwörtlich auf die Spur

Dann kamen die molekulargenetischen Untersuchungen an den Spuren im Mordfall Möhlmann 30 Jahre nach der Tat. Sie belasteten den damals Freigesprochenen. Aber ihn einfach wieder vor Gericht zu stellen, ging nicht. Die Wiederaufnahme von Strafprozessen nach rechtskräftigen Urteilen – und auch ein Freispruch ist ein Urteil – ist zulasten des Angeklagten nur in absoluten Ausnahmefällen möglich. Etwa, wenn für das Verfahren relevante Zeugen gelogen haben oder Urkunden gefälscht wurden, und sich dies erst im Nachhinein herausstellt. Oder aber der Angeklagte gesteht die Tat.

Dass neue Beweise – oder, wie bei Möhlmann, neuartige Untersuchungen alter Beweise – zu neuen Anklagen führen, war ausgeschlossen. Eine Rechtslage, wie sie seit mehr als 140 Jahren Bestand hatte. Nur in der NS-Zeit war man weiter gegangen, um nach Ansicht der NS-Justiz zu milde Bestrafte rückwirkend härter strafen zu können.

Der Möhlmann-Mord brachte etwas in Bewegung. Verantwortlich dafür war wesentlich der Vater des Opfers, der mittlerweile verstorbene Hans von Möhlmann, der mit mehr als 100.000 Unterschriften ins Bundesjustizministerium kam, um den Gesetzgeber zu Änderungen zu drängen. Ein Übriges tat das Engagement der „Bild“-Zeitung.

Ende 2021 kam es dann, das noch unter der Großen Koalition beschlossene „Gesetz zur Wiederherstellung materielle Gerechtigkeit“, das eine Wiederaufnahme bei schwersten Straftaten wie Mord oder Kriegsverbrechen zulässt. Voraussetzung: Die neuen Beweise müssen „dringende Gründe“ bilden, dass ein ehemals Freigesprochener in einem neuen Verfahren verurteilt wird.

Der „Kampf um Gerechtigkeit“ geht für die Schwester weiter

Dieses Gesetz ist nun Gegenstand der Verfassungsbeschwerde. Es steht in Konflikt zum römischen Rechtsgrundsatz „ne bis in idem“, der sinngleich in das Grundgesetz übertragen wurde: Man darf nur einmal für eine Tat bestraft werden. Zudem rügt der Beschwerdeführer einen Verstoß gegen das Verbot rückwirkenden Strafens.

Unerträglich für die Schwester der Getöteten, die von ihrem Anwalt eine Erklärung verlesen ließ. Der „Kampf um Gerechtigkeit“, den ihr Vater aufgenommen habe, gehe weiter: „Zeit schafft keinen Frieden im Herzen.“

Für Union und SPD verteidigten die Rechtsprofessoren Elisa Hoven und Michael Kubiciel das Gesetz. Kubiciel war bemüht, einen Unterschied zwischen Strafen einerseits und Strafverfolgen andererseits herauszuarbeiten – für Letzteres gelte das so genannte Verbot der Doppelbestrafung nur eingeschränkt. Hoven betonte den Anspruch von Opfern und ihren Angehörigen auf eine wirksame Strafverfolgung und bestritt, dass der Gesetzgeber hier einer populistischen Forderung nachgegeben habe. „Im Kern“ werde das Verbot nicht angetastet.

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Unterschriften für eine Gesetzesänderung brachte der Vater des Opfers 2016 zum Bundesjustizministerium.

Für Grüne und FDP – damals in der Opposition – sprach der Strafrechtler Erol Pohlreich davon, dass das Problem vom Betroffenen aus analysiert gehöre – und das seien nicht Opfer und Angehörige, sondern der – möglicherweise – Unschuldige, der zum wiederholten Mal vor Gericht gestellt wird. 2021 habe es in knapp zwei Prozent aller Strafverfahren Freisprüche gegeben, bei Mordverfahren seien es 6,7 Prozent. Das zeige, gerade bei solchen Straftaten könnten Verdachtsprognosen fehlgehen. Mit dem Gerechtigkeits-Gesetz werde jeder Freispruch unter Vorbehalt gestellt. „Wie ein Damoklesschwert“ drohe jederzeit ein neuer Prozess, lebenslang.

Das Gericht zeigte sich eher skeptisch und fragend, weniger wissend. Und erkennt an, dass es auch um Gefühle geht. Richter Peter Müller illustrierte das mit dem Gedankenspiel, es sei schwer verständlich, wenn dereinst gegen einen Kriegsverbrecher ein neues Verfahren zulässig sein soll, weil er nach einem vorangegangenen Freispruch geständig ist, während ein anderer unverfolgt bleibt – obwohl in beiden Fällen neue Beweise für eine Schuld sprächen. Insgesamt hatten die Befürworter der Gesetzesänderung im Verlauf der Verhandlung aber den schwereren Stand.

Das Gericht muss nun entscheiden, ob der „ne bis in idem“-Grundsatz überhaupt für eine Abwägung zugänglich sein soll – oder ob er absolut im Grundgesetz steht. Letzteres wäre eine gute Nachricht für den Beschwerdeführer, der sich derzeit – unter Auflagen – auf freiem Fuß befindet. Der „Kampf um Gerechtigkeit“, den die Familie von Frederike von Möhlmann führt, wäre dann aber vergebens gewesen.

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