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Bewerben durften sich bei der ESA nur Menschen mit Einschränkungen der Bein- beziehungsweise Fußfunktion, Menschen, deren Beine unterschiedlich lang sind, und kleinwüchsige Menschen.

© Imago

257 Menschen mit Behinderung wollen ins All: Parastronaut nach Hause telefonieren

Die Europäische Weltraumorganisation sucht den Parastronaut – eine Wortneuschöpfung, die sich aus Para-Sport und Astronaut zusammensetzt. Bernd Schwien machte mit.

An dieser Stelle berichtete das Team der Paralympics Zeitung, ein Projekt von Tagesspiegel und der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. Alle Texte zu den Spielen rund um Peking finden Sie hier. Aktuelles finden Sie auf den Social Media Kanälen der Paralympics Zeitung auf Twitter, Instagram und Facebook.

Bernd Schwien hat ein Ziel: das All. Der 58-Jährige möchte die Erde von oben sehen, den blauen Planeten inmitten des dunklen Weltraums. Möchte Astronaut der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) werden. Mit einer Geschwindigkeit von mehreren tausend Stundenkilometern dieser Erde entfliehen. Den Sternen entgegen.

Schwien ist Professor für Sozialmanagement an der Hochschule Nordhausen in Thüringen. Nach einem Motorradunfall – „ein Totalschaden, alles war im Eimer“, sagt Schwien – wurde ihm im Alter von 19 Jahren sein linkes Bein amputiert. Seitdem trägt er, der früher für den Prothesenhersteller Ottobock als Produktmanager arbeitete und bei der Entwicklung einer computergestützten Prothese half, ein künstliches Bein. Ein Astronaut mit Prothese? Das kennt die Welt nicht. Zumindest noch nicht.

Dass Bernd Schwien sich überhaupt in den Weltraum träumt, hat viel zu tun mit einer Bekanntmachung der ESA im Frühjahr 2021. Vor gut einem Jahr gab die Organisation bekannt, dass sie in ihrer neuen Bewerbungsrunde für Astronauten auch Menschen mit Behinderung berücksichtigen würde – solange sie all die Bedingungen erfüllen, die auch nicht-behinderte Astronauten erfüllen müssen. Dazu zählen unter anderem ein naturwissenschaftlicher Master-Abschluss oder eine Fluglizenz, Englischkenntnisse und die Staatsbürgerschaft in einem ESA-Mitgliedsland.

Schwien ist ein begeisterter Pilot

Das Medienecho war riesig: Der Parastronaut – eine Wortneuschöpfung, die sich aus Para-Sport und Astronaut zusammensetzt – wurde zum Hashtag auf Social Media. Und er wurde gefeiert als ein Zeichen für Inklusion und Respekt. Bernd Schwien bekam über einen Bericht von der Aktion der ESA mit. Dass er sich bewerben würde, sei ihm eigentlich sofort klar gewesen, sagt er heute. Also füllte er den Bewerbungsbogen aus, schickte ihn an die ESA. Denn dass es für ihn hoch hinaus gehen sollte, das habe er schon immer gewusst.

Wer verstehen möchte, warum Schwien so tickt, wie er tickt, der muss ein paar Dinge über ihn wissen: Erstens, Bernd Schwien ist ein sehr rational denkender Mensch. Auf die Frage, ob er nicht auch ein wenig Angst davor habe, lacht er erstmal und erwidert dann ganz trocken: nein. Schwien sagt: „Wenn Sie vor etwas Angst haben, dann müssen Sie Angst in ein Risiko umwandeln.“ Das könne man nämlich abschätzen und damit umgehen lernen.

Zweitens, Schwien ist ein großer Fan von „Forrest Gump“, dem US-Film aus 1994, in dem der titelgebende Charakter durch die Weltgeschichte läuft. Forrest Gump ist ein lebensbejahender Mensch. Und Schwien hat eine ganz ähnliche Einstellung. Er kann auch gar nicht anders, sagt er. Als er nach dem verhängnisvollen Unfall auf der Intensivstation aufwachte, fing er direkt damit an, seine Zukunft zu planen. Er sagt: „Ich habe sofort angefangen, mich auf den Weg zu machen, habe angefangen, mein Leben weiterzuführen. Es ist ein Teil davon, was mich gerettet hat.“ Sein persönliches Motto: „Carpe diem.“ Lebe den Tag.

Und zuguterletzt: Schwien ist ein begeisterter Pilot, wollte es schon werden, als er acht Jahre alt war. Über Gyrocopter und einmotorige Flugzeuge spricht er wie andere über die Fußball-Bundesliga. Den Pilotenschein hat er gemacht, da trug er schon eine Prothese. Viele Fluglehrer waren erst einmal skeptisch, erzählt Schwien heute. Er musste sich beweisen. Indem er immer wieder eine Maschine ein- und ausparkte, mit ihr am Boden rumfuhr, während andere Flugschüler ihr Glück bereits in der Luft versuchen durften. Schwien überzeugte, er zog es durch und bekam dann die Flugerlaubnis. Gut 30 Jahre ist das her.

Einen Flug in den Weltraum garantiert die ESA nicht

Jetzt also der Weltraum. Schwien ist froh über die Initiative der ESA, er sagt: „Ich finde das ein ganz tolles Signal.“ So könnte gezeigt werden, dass auch Menschen mit Behinderung das Zeug zum Astronauten haben. Aber Schwien äußert auch Kritik, etwa am Astronauten-Handbuch, das die ESA auch den Bewerbern mit Behinderung nahelegt. An sie angepasst ist es aber nicht.

Eine weitere Schwachstelle des ESA-Programms: Bewerben durften sich nur Menschen mit Einschränkungen der Bein- beziehungsweise Fußfunktion, Menschen, deren Beine unterschiedlich lang sind, und kleinwüchsige Menschen. Andere Beeinträchtigungen wurden vorerst nicht berücksichtigt. Die ESA geht aber offen damit um: Das „Parastronaut feasibility project“ sei ein Pilotprojekt, man möchte das Mögliche ausloten und schauen, welche Schlüsse sich daraus ziehen lassen. Einen Flug in den Weltraum kann die ESA nicht garantieren, aber man werde sich natürlich dafür einsetzen.

Bernd Schwien ist ein begeisterter Pilot, wollte es schon werden, als er acht Jahre alt war.

© promo

Bernd Schwiens Chancen auf eine Reise ins All sind seit vergangenem Dezember ein ganzes Stück geringer geworden. Am Nikolaustag hat der 58-Jährige Post von der ESA bekommen: Er sei zu alt, man könne für ihn keine Ausnahme machen. Auch wenn Bernd Schwien sagt, dass sein gefühltes Alter nicht dem kalendarischen Alter entspricht, kam die Nachricht nicht überraschend. Er stand wegen des Themas schon längst mit der ESA im Kontakt. Enttäuscht ist er nicht, er sagt: „Entscheidend ist es, dass ich im Leben das machen kann, was mir wichtig ist. Das beinhaltet auch das Scheitern.“ Außerdem habe er schon oft erlebt, dass Tätigkeiten, die ihm vorenthalten wurden, dann auf einmal doch möglich wurden. Vom Autofahren bis zum Fliegen. Schwien sagt: „Es ist wichtig, ein Ziel vor Augen zu haben.“

Anfang Februar 2022 hat die ESA, die keine Informationen zu einzelnen Bewerbern preisgibt, Zahlen veröffentlicht: 257 Menschen haben eine Bewerbung eingereicht, um Parastronaut zu werden. 27 von ihnen sind jetzt in der zweiten Phase des Bewerbungsprozesses und werden psychologischen und praktischen Tests unterzogen. Im Oktober 2022 soll bekanntgegeben werden, wer zukünftig für die ESA in den Weltraum fliegt. Und wer weiß? Vielleicht wird in ein paar Jahren tatsächlich ein Parastronaut im All sein – und die Erde von oben sehen.

Max Fluder

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