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Moses-Mendelssohn-Jubiläumsausgabe: Eine Frage der Philosophie

81 Jahre Editionskrimi: Ein Teil der umstrittenen Jubiläumsausgabe Moses Mendelssohns wird in Berlin präsentiert.

Sie spricht leise, ihre Augen leuchten. Sie wirkt zerbrechlich. Sie lässt sich nichts gefallen. Wenn man, beispielsweise, ignoriert, dass aufgrund ihrer Forschungen der Geburtstag des Philosophen Mendelssohn von 1729 auf 1728 vorverlegt werden müsste, kann die 87-Jährige ziemlich fuchtig werden. Es gehe nicht um ihre Person, sagt sie. Aber die Aufregungen ihres Lebenswerks sind von den biografischen Dramen schwer zu trennen.

Eva Engel-Holland entstammt einer Berliner Gelehrtenfamilie. Urgroßvater Ludwig Traube war der erste Nichtmilitärarzt an der Charité, ihr Vater Stefan Engel ein berühmter Kinderarzt. Hans Litten, der Anwalt, der Hitler im Zeugenstand vorführte und das mit dem Leben bezahlte, ist mit ihr verwandt. Mit einer Tochter des letzten Bankchefs der Familie von Mendelssohn besucht sie die Schule im Westend, bis zur Emigration. Ihre Mutter, deren Mädchenbild mit glänzenden Augen, gemalt von Sabine Lepsius, Eva Engels heutige Wohnung in Berlin überstrahlt, stirbt in London. Eine in Deutschland verbliebene Tante wird deportiert und ermordet. 1967 wird die Germanistin Eva Engel Professorin am Wellesley College bei Boston, USA. 1971 begegnet sie ihrem Schicksal: dem orthodoxen Rabbiner Alexander Altmann und „seiner“ Jubiläumsausgabe von Moses Mendelssohns gesammelten Schriften, genannt JubA.

Kommenden Sonntag soll im Berliner Centrum Judaicum Eva Engels Lebenswerk öffentlich gewürdigt werden, im Kreis ihrer Mitarbeiter aus Wolfenbüttel. 16 JubA-Bände waren zunächst geplant, dann 20, jetzt sind – Teilbände inklusive – 42 Wälzer avisiert; aber nur 34 gedruckt. Ein Finale? Ein Monument für Moses, den Vermittler antiker und zeitgenössischer Denker, den Begründer einer objektiven Literaturkritik, den Emanzipationspionier und interkulturellen Brückenbauer, ist die Werkausgabe zweifellos. Manche, die an diesem grandiosen Denkmal der Aufklärungszeit beteiligt waren, haben freilich keine Lust zu feiern. Verwerfungen eines 81-jährigen Editionskrimis; Widerhall einer schwierigen 250-jährigen jüdisch-deutschen Geschichte.

Nachdem alle Werkausgaben des in Preußen ebenso diskriminierten wie geehrten Moses Mendelssohn während des 19. Jahrhunderts – selbst die durch seinen Enkel Felix Mendelssohn Bartholdy inspirierte, von dessen Cousin Georg Benjamin Mendelssohn edierte – unvollständig geblieben waren, begann die Berliner Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums 1925 mit der Vorbereitung einer kritischen JubA. Unterstützt wurde sie dabei von prominenten Geisteswissenschaftlern sowie zahlreichen Mendelssohn-Nachkommen und -Bankiers, ohne deren Förderung das Projekt die Weltwirtschaftskrise kaum überstanden hätte. Erste Bände erscheinen zum Mendelssohn-Jubiläum 1929, sechs Bände bis 1932; im Berliner Akademie-Verlag, der 1936 liquidiert wird. Die Rechte gehen auf den Breslauer Verlag Marcus über, der nach der „Arisierung“ seine Judaica abstößt. Der Breslauer Verleger Münz übernimmt die JubA-Rechte. Der Band Hebräische Schriften I, fertiggestellt 1937, erscheint im November 1938, wird von der Gestapo aber sofort eingestampft. Die Herausgeber fliehen in die USA, nach England, Israel. Im letzten Moment, als die bürgerlichen Kräfte dafür noch vorhanden, die Quellen noch zugänglich waren, ist diese Edition begonnen worden, doch gehen weitere druckreife Manuskripte und Notizen verloren.

1961 beginnt der Inhaber des 1727 gegründeten Frommann Verlages in Stuttgart, Günther Holzboog, mit den weltweit verstreuten JubA-Herausgebern oder deren Erben Kontakt aufzunehmen, ihre Rechte zu erwerben. Alexander Altmann, Professor für jüdische Geistesgeschichte in Waltham/USA, ist 1965 gerade als Generalherausgeber gewonnen worden, da kündigt der Olms Verlag Hildesheim den Nachdruck erschienener JubA-Bände samt Fortsetzung an: Man habe die Rechte vom Wiener Rechtsnachfolger des Breslauer Marcus-Verlages erhalten. Es kommt zum Prozess, Holzboog zahlt eine Vergleichssumme. 1972 beginnt die Publikation der Reprints. Quellenfunde im mendelssohnschen Familienbesitz führen zur Erweiterung der Editionspläne.

Eva Engel war erstmals von Mendelssohn fasziniert, als sie Mitte der fünfziger Jahre, in Briefen des von ihr erkundeten Spätaufklärers Karl Philipp Moritz, den Ansichten des jüdischen Philosophen zur Autonomie der Kunst begegnete. Nun wirbt der Emigrant Altmann die Emigrantin als Mitherausgeberin. Sie soll Mendelssohns Aufsätze zur vergleichenden Literatur betreuen, die ein Viertel des Oeuvres ausmachen. Nach dem Tod ihres Mannes übersiedelt sie aus den USA nach Wolfenbüttel, arbeitet in jener prächtigen alten Herzog-August-Bibliothek (HAB), wo Lessing seine letzten Lebensjahre verbrachte und von seinem Freund Moses besucht wurde. Der Direktor der HAB, Paul Raabe, unterstützt dieses „Forschungsprojekt zur europäischen Kulturgeschichte der Neuzeit“: durch Vermittlung eines Stipendiums, durch Bereitstellung eines Arbeitszimmers.

1987 stirbt Alexander Altmann. 2002 holt Eva Engel auf Wunsch der geldgebenden Deutschen Forschungsgesellschaft Verstärkung ins Herausgeber-Boot, die Hebraisten Michael Brocke und Daniel Krochmalnik. Dass sie den Kollegen vertraglich eine Option eingeräumt hat, sie zu überstimmen, mag sie immer noch nicht fassen. Als der Band 20,1 (Hebräische Schriften, deutsche Übertragung) fast ohne ihre Beiträge erscheint, geht Eva Engel vor Gericht. Moses’ Verdienste würden durch diese Unterschlagung geschmälert, sagt Eva Engel heute, ihre Kontrahenten seien keine Mendelssohn-Kenner. Doch der Stuttgarter Richter habe das Verfahren als „intellektuellen Streit“ abgewiesen.

Eckart Holzboog, der 1998 den Verlag seines Vaters übernommen hatte, vertritt die Position der Mitherausgeber. Eva Engel sieht das JubA-Vermächtnis durch betrügerische Machenschaften zerstört. Sie glaubt nicht, dass die letzten Bände – Nachträge, Glossare, Register, ein Bibliotheksverzeichnis Mendelssohns – noch publiziert werden. Eine skeptische Einschätzung, die der pensionierte HAB-Direktor teilt. Raabe sagt, mit einer Dame, die größte Verdienste um Mendelssohn habe, „darf man so nicht umgehen“. Nun hat die Entmachtete mit eigenen Mitteln und mit Hilfe des Kölner Bankhauses Sal. Oppenheim, das die JubA seit Jahren fördert, acht letzte Bände auf unverkäuflichen CD-Roms produzieren lassen, samt ISBN-Nummer: jeweils vier Exemplare für den Sponsor, die Berliner Staatsbibliothek, die HAB und das Centrum Judaicum. Geschafft. Immerhin liegt so jetzt endlich die komplette Ausgabe vor.

Ein Rechtsbruch, sagt Eckart Holzboog, der Frau Engels Meriten erwähnt, sich aber angebliche fachliche Fehler der Wissenschaftlerin durch Gutachter bestätigen lässt. Zwar gebe es zwei positive Rezensionen der CD-Rom-Bände, doch diese seien lanciert worden. Er könne zwei – leider unpublizierte – kritische Rezensionen dieser illegalen Ausgabe anbieten. Frau Engel habe übrigens vergeblich gegen ihn prozessiert. Keineswegs sei die JubA abgeschlossen: Ein Nachtragsband mit philosophischen Fragmenten werde wohl 2006 erscheinen, für 2007 sei Band 9,3 (Pentateuchkommentar) zu erwarten, 2007/08 das Register.

Die Feier am 3. September hätte der Verleger gern verhindert. Nun kommt er doch dazu, ein Mitherausgeber soll Eva Engel „Dank“ abstatten. Gerahmt werden die Reden durch Quartett-Sätze der Mendelssohn-Enkel Fanny und Felix, am Schluss steht ein Stück mit der Bezeichnung vivace assai. Sehr lebhaft! Vielleicht gelingt es ja, Moses M., dem buckligen Brückenbauer, dem brillanten Analytiker und gewinnenden Moderator einen einflussreichen Ehrenplatz zu reservieren.

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