zum Hauptinhalt
Auch vor dem Kanzleramt warben Gewerkschafter für den Mindestlohn, der dann zum 1.1.2015 Gesetz wurde.

© dpa

Die Erfahrungen mit dem Mindestlohn: „Die Verbraucher akzeptieren höhere Preise“

Claudia Weinkopf, Mitglied der Mindestlohnkommission, spricht im Interview über die Erfahrungen mit der Lohnuntergrenze und die erste Erhöhung 2017.

Frau Weinkopf, sind Sie zufrieden mit der Erhöhung des Mindestlohns von 8,50 auf 8,84 Euro zum 1. Januar 2017?

Ich halte dies für einen vertretbaren Kompromiss, der sich an den gesetzlichen Vorgaben zur Anpassung des Mindestlohnes orientiert. Vor der entscheidenden Sitzung der Mindestlohnkommission wurde über 8,77 Euro spekuliert, sodass am Ende die 8,84 Euro mehr sind, als manche erwartet haben.

Die Grundlage für die Erhöhung ist der statistische Tarifindex, in dem Tariferhöhungen von Anfang 2015 bis Mitte 2016 einfließen. Warum war selbst dieses statistische Instrument in der Kommission umstritten?
Der Auszahlungszeitpunkt einer Tariferhöhung ist für die Statistiker entscheidend und nicht das Inkrafttreten des neuen Tarifs. Das war den Kommissionsmitgliedern vorab nicht bekannt.

Konkret ging es um den Tarifabschluss im öffentlichen Dienst, der allein dazu beiträgt, dass der Mindestlohn um sechs Cent steigt. Wie schwierig war es, die Arbeitgeber hier zum Einlenken zu bewegen?
Nach meiner Wahrnehmung war das gar nicht so strittig, weil der Tarifabschluss eindeutig bereits im Frühjahr 2016 erfolgt war. Ihn nicht zu berücksichtigen, weil die tatsächliche Auszahlung der Erhöhung bis zur Kommissionsentscheidung noch nicht erfolgt war, erschien nicht plausibel und nachvollziehbar.

Claudia Weinkopf ist wissenschaftliches Mitglied der Mindestlohn-Kommission.

© Fotoagentur FOX / Uwe Voelkner

Die nächsten Erhöhungen gibt es im Zwei-Jahres-Rhythmus, also 2019, 2021 und so fort. Damit wird der Mindestlohn voraussichtlich erst Mitte des nächsten Jahrzehnts über zehn Euro steigen.
Das bleibt abzuwarten. Es ist ja nicht nur der Tarifindex zu berücksichtigen, sondern auch eine Gesamtabwägung vorzunehmen, die einen angemessenen Schutz der Arbeitnehmer, faire Wettbewerbsbedingungen und die Beschäftigung, also die Auswirkungen des Mindestlohns auf den Arbeitsmarkt, berücksichtigt. Das ist die Vorgabe des Gesetzes.

Kann sich der deutsche Mindestlohn im internationalen Vergleich sehen lassen?
Im europäischen Vergleich liegt der deutsche Mindestlohn nur im Mittelfeld. In Frankreich, Belgien und den Niederlanden liegen die gesetzlichen Mindestlöhne bereits mehr oder weniger deutlich über neun Euro. Die 8,50 Euro reichen in Deutschland nur ganz knapp für einen Alleinstehenden – sofern er Vollzeit arbeitet und nicht in einer teuren Stadt wohnt. So gesehen, könnte man für deutlich mehr plädieren. Dagegen stehen Bedenken, dass ein deutlich höherer Mindestlohn der Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung schaden könnte.

Je höher der Mindestlohn, desto höher die Arbeitslosigkeit, sagt Ihr Kommissionskollege Clemens Fuest.
Das haben wir in den letzten Jahren von vielen Ökonomen gehört. Noch kurz vor Einführung des Mindestlohns haben sie vor gravierenden Arbeitsplatzverlusten gewarnt. Dazu ist es nicht gekommen.

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit konstatiert aber auch einen negativen Effekt und spricht von bis zu 60 000 Arbeitsplätzen, die der Mindestlohn „kostet“.
Gemeint sind hier vor allem Arbeitsplätze, die nicht entstanden sind – und zwar in „vom Mindestlohn betroffenen“ Betrieben. Dies sind laut IAB Betriebe, die im Jahr 2014 mindestens einen Beschäftigten hatten, der weniger als 8,50 Euro verdiente. Insgesamt hat sich die Beschäftigung aber sehr positiv entwickelt. Im Juni 2016 gab es 528 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr als im Vorjahresmonat. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass sich die Binnennachfrage hierzulande um einige hundert Millionen Euro erhöht hat.

Wegen der robusten Konjunktur hat der Mindestlohn keinen größeren Schaden angerichtet. Die Verbraucher sind bereit, höhere Preise zu zahlen. Ist die Geiz-ist- geil-Mentalität überwunden?
Da wäre ich vorsichtig. Aber in vielen Köpfen ist offenbar angekommen, dass „billig, billig“ auch mit schlechten Arbeitsbedingungen und geringer Entlohnung von Beschäftigten zusammenhängt und dass letztlich die Gesellschaft dafür zahlt, indem aufstockende Sozialleistungen an die gegeben werden müssen, die von ihrer Arbeit nicht leben können.

Dann zahlen die Verbraucher also lieber gleich höhere Preise?
Vor der Einführung des Mindestlohns haben Umfragen ergeben, dass viele Menschen bereit sind, mehr zu bezahlen, wenn die Beschäftigten einen fairen Lohn erhalten. Die Stimmung in der Bevölkerung war einfach so, dass endlich eine Untergrenze gezogen werden sollte. Entsprechend sind die Menschen bereit, kleinere Preiserhöhungen zu akzeptieren.

Die Zahl der Aufstocker ist aber durch den Mindestlohn nicht viel kleiner geworden.
Sie hat sich um etwa 60 000 reduziert. Das liegt im Rahmen der Erwartungen und hängt vor allem mit der Arbeitszeitdauer zusammen. Viele Aufstocker sind nur in Minijobs oder in Teilzeit beschäftigt. Oder die Familie ist so groß, dass trotz Mindestlohn weiter ergänzende Leistungen erforderlich sind, um den haushaltsbezogenen Bedarf zu decken.

Kommt der Mindestlohn überall an, wo er gezahlt werden sollte?
Es gibt noch wenige Branchen, in denen geringere tarifliche Mindestlöhne gelten, und einige Personengruppen, die keinen Anspruch auf den Mindestlohn haben, wie zum Beispiel Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten einer Beschäftigung. Im April 2015 arbeiteten noch knapp 1,4 Millionen Beschäftigte für weniger als 8,50 Euro. Ein Teil davon dürfte illegal sein – aber in welchem Ausmaß, lässt sich nicht beziffern. Ich vermute, dass Verstöße vor allem im Bereich der Minijobber vorkommen, die gut die Hälfte der Betroffenen ausmachen. Es hat bislang kaum Kontrollen geben, das spielt sicher auch eine Rolle.

Wie drücken Arbeitgeber den Lohn unter 8,50 Euro?
Da gibt es viele Möglichkeiten. Auf dem Papier wird der Mindestlohn eingehalten, aber die Arbeitszeit ist hier eine kritische Größe. Wenn die Zahl der geleisteten Stunden nicht richtig erfasst wird, dann hat auch der Zoll erhebliche Schwierigkeiten, die Einhaltung des Mindestlohns zu kontrollieren.

Das Gastgewerbe ächzt unter dem bürokratischen Aufwand der Zeiterfassung.
Irgendwie muss die Arbeitszeit ja auch bislang schon erfasst worden sein, denn diese ist ja nun mal der Dreh- und Angelpunkt für die monatliche Bezahlung. In Kleinbetrieben mag es ungewohnt sein, aber es reichen ja handschriftliche Aufzeichnungen. Größere Unternehmen haben ohnehin Zeiterfassungssysteme.

Ist die Kontrolle das Hauptproblem nach anderthalb Jahren Erfahrung mit dem Mindestlohn?
Die Kontrollen sind zweifellos ein zentrales Problem. Die umfangreiche Mindestlohnforschung zeigt, dass Betriebe ihren Frieden mit dem Mindestlohn schließen, wenn sie sich darauf verlassen können, dass sich auch ihre Konkurrenz daran hält. Wenn es kaum Kontrollen gibt, können Zweifel aufkommen. Ein zweites Problem sehe ich in der mangelnden Transparenz, was auf den Mindestlohn angerechnet werden darf und was nicht. Was die Anrechnung von Sonderzahlungen oder Zuschlägen betrifft, gibt es viel Unsicherheit. Wenn man die Klärung allein den Gerichten überlässt, bringt das Unruhe über viele Jahre. Hier wären klarere gesetzliche Vorgaben der bessere Weg.

Auch von Mitgliedern der Kommission ist auf die veränderte Lage durch Flüchtlinge hingewiesen worden: Um deren Integration in den Arbeitsmarkt zu erleichtern, sollte von den 8,50 Euro nach unten abgewichen werden. Warum sind Sie dagegen?
Zur Integration von Flüchtlingen braucht man eine kluge Arbeitsmarktpolitik mit einem klaren Schwerpunkt im Bereich von Sprachkursen, Ausbildung und Qualifizierung. Und selbstverständlich ist auch ein starkes Engagement der Unternehmen gefragt.

Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt regeln sich aber auch über den Preis.
Sicher. Es gibt aber ja eine Reihe von Möglichkeiten im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik, den „Preis“ zeitweilig zu senken, zum Beispiel Lohnkostenzuschüsse, die viel gezielter und passgenauer eingesetzt werden können als eine pauschale Ausnahmeregelung beim Mindestlohn.

Wie groß ist der Schaden des gesetzlichen Mindestlohns für die Tarifautonomie?
Die Ankündigung der Mindestlohneinführung hat in einigen Branchen dazu geführt, dass erstmals oder nach längerer Pause wieder Tarifverhandlungen geführt worden sind. Beispiele sind die Fleischindustrie, das Frisörhandwerk und die Floristik. Das eröffnet auch neue Chancen. Es war ein geschickter Schachzug der Politik, den Mindestlohn mit dem Ziel der Stärkung der Tarifautonomie zu verknüpfen.

Und was passiert im nächsten Abschwung, wenn die Arbeitslosigkeit steigt und der Mindestlohn den Stellenabbau forciert?
Ob der Mindestlohn dann wirklich zum Problem wird, ist eine offene Frage. Besonders konjunktursensibel sind ja eher die Branchen mit starker Exportorientierung und Tariflöhnen, die deutlich über dem Mindestlohn liegen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false