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Wirtschaft: Flaute am Bosporus

In der Türkei kühlt sich das Wachstum ab.

Athen - Ein Wirtschaftswachstum von rund 7,5 Prozent – damit lag die Türkei 2011 mit China an der Weltspitze. Aber in diesem Jahr wird sich die Konjunktur deutlich abkühlen. Während die Regierung von einem sanften Abschwung ausgeht, fürchten manche Analysten eine harte Landung.

Noch zum Jahreswechsel gab sich Wirtschaftsminister Ali Babacan optimistisch: vom 17. Platz in der Rangfolge der größten Wirtschaftsnationen werde sich die Türkei bis 2023 unter die ersten zehn vorarbeiten. „Wir werden unsere Konkurrenten einen nach dem anderen übertreffen“, prophezeite Babacan. Für die Europäer, die mit der Schuldenkrise kämpfen, hatte er nur Mitleid übrig: Wenn türkische Politiker am Steuer der EU säßen, wären die Probleme „in drei Monaten gelöst“.

Doch die Krise kann die Türkei nicht kalt lassen. Dazu ist die Wirtschaft des Landes, das seit 1995 zur Zollunion gehört, zu eng mit der EU verflochten. Dort setzt die Türkei 47 Prozent ihrer Ausfuhren ab. Nicht nur ein Rückgang der Nachfrage in den EU-Ländern trifft die Türkei. Sie ist auch in besonderem Maß auf Kapitalzuflüsse aus dem Euro-Raum angewiesen. Das starke Wachstum der vergangenen drei Jahre hat die Türkei vor allem mit externen Kapitalzuflüssen finanziert – ausländische Direktinvestitionen oder Risikokapital, das in türkische Wertpapiere und Immobilien floss. Dieser Zustrom dürfte angesichts des abgeschwächten Wachstums in der EU und der anhaltenden Sorgen um die Zukunft des Euros in diesem Jahr merklich zurückgehen.

Für die Türkei beschwört das umso größere Risiken herauf, als die Konjunktur in den vergangenen Quartalen zunehmende Zeichen einer gefährlichen Überhitzung zeigte. Ein Alarmsignal ist nicht nur der Anstieg des Leistungsbilanzdefizits, das sich der Marke von zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nähert. Auch die Inflation lag im Dezember mit 10,4 Prozent fast beim Doppelten der Vorgabe der türkischen Zentralbank, die für 2011 ein Inflationsziel von 5,5 Prozent festgesetzt hatte. Diese Ungleichgewichte sind das Ergebnis einer ganz auf Wachstum fixierten Geldpolitik. So hatte die Zentralbank noch im August vergangenen Jahres, als viele Volkswirte bereits vor der drohenden Überhitzung der Konjunktur warnten, zur Überraschung der meisten Analysten den Leitzins um 50 Basispunkte auf 5,75 Prozent herabgesetzt und damit das Kreditwachstum weiter angeheizt.

Zentralbankchef Erdem Basci glaubt dennoch an eine „weiche Landung“. Auch Wirtschaftsminister Babacan gibt sich gelassen: Er erwartet für das Jahr 2012 ein Wachstum von vier Prozent. Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet dagegen nur noch mit zwei Prozent Zuwachs. Das wäre für die Türkei, deren Bevölkerung immer noch stark wächst, ein „Mini-Wachstum“ und mit spürbar steigenden Arbeitslosenquoten verbunden. Allein um den Beschäftigungsstand zu halten, braucht das Land nach Expertenschätzungen rund fünf Prozent Wachstum. Nach Einschätzung mancher Volkswirte könnte es 2012 noch schlimmer kommen: Analysten des Istanbuler Brokerhauses Oyak Securities erwarten einen Rückgang der Wirtschaftsleistung um „zwei Prozent oder mehr“.

Auf eine Schuldenkrise wie Griechenland steuert die Türkei aber nicht zu: Das Haushaltsdefizit lag im vergangenen Jahr nach vorläufigen Berechnungen des Finanzministeriums bei weniger als einem Prozent des BIP, obwohl der Staat 2011 umgerechnet rund vier Milliarden Euro mehr als geplant in Infrastrukturprojekte investierte. Tragbar ist auch die Gesamtverschuldung: nach einer Prognose der Ratingagentur Moody’s wird die Schuldenquote der Türkei in diesem Jahr auf 40,3 Prozent des BIP sinken – ein Wert, von dem viele Euro-Staaten nur träumen können. Gerd Höhler

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