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Jahr der Geisteswissenschaften: Die noble Märtyrerin

Emilia Galotti: Was Lessings Kritik der Gewalt mit der Lage der Literaturwissenschaften zu tun hat

Im Jahr der Geisteswissenschaften bittet der Tagesspiegel herausragende Vertreterinnen und Vertreter geistes- und kulturwissenschaftlicher Fachgebiete um Aufsätze zu einem Forschungsthema, das sie gerade beschäftigt. Sie geben Einblicke in die Arbeitsweise von Geisteswissenschaftlern, in ihre Methoden und aktuellen Forschungsansätze. Diese Werkstattberichte sollen die Vielfalt geisteswissenschaftlicher Arbeit zeigen.

Der merkwürdige Tod der Emilia Galotti hat Generationen Schüler, Germanisten und Theaterleute beschäftigt. Heutige Leser lässt die Schlussszene von Lessings Trauerspiel ebenso irritiert zurück wie die Zuschauer der Erstaufführung 1772: dieser Tod einer Tochter durch die Hand ihres Vaters, der ihr zuvor den Dolch aus der Hand reißt, mit dem sie sich selbst töten wollte.

Emilias Tod fügt sich nicht in das damals beliebte Bild der gefallenen Tugend, die ihre verlorene Unschuld mit dem Tod bezahlen musste – auf der Bühne wie zuweilen auch im Leben. Denn im Fall Emilias ist der Unterschied zwischen Selbsttötung und Tötung verwischt. Die Tochter selbst fordert den zögernden Vaters heraus: „Ehedem gab es einen Vater, der seine Tochter von der Schande zu retten, ihr den ersten den besten Stahl in das Herz senkte – ihr zum zweiten das Leben gab.“

Lessings Szene spielt nicht im Orient, dem Schauplatz nicht weniger barocker Trauerspiele im Jahrhundert zuvor. Deren Personal stand den leibhaftigen Menschen fern, da neben Tyrannen, Feldherren, Bischöfen und Monarchinnen darin auch Geister und Allegorien der Planeten und der Ewigkeit auftraten: ein passender Schauplatz für jene Märtyrerinnen, die der tyrannischen Inbesitznahme von Leib und Land mit der Bastion einer beständigen Tugend trotzen und die grausamsten Martern nicht nur stoisch ertragen, sondern für das Heil ihrer erlösten Seele freudig begrüßen. Erst als im 18. Jahrhundert – durch den Auftritt von Bürgern auf der Bühne – das Theatergeschehen dem Leben und den Gefühlen der Zuschauer näherrückte, wurde der Opfertod einer Märtyrerin zum Skandalon.

Insofern gab Emilia Galotti der Literaturwissenschaft die Frage auf, was eine Märtyrerin im Theater der Aufklärung zu suchen habe; auch in Zeiten, als Gattungen wie das Märtyrerdrama sich eher im toten Winkel ihrer Methoden befanden. Dies umso mehr, als Lessing in seiner Programmschrift „Hamburgische Dramaturgie“ gegen das epidemische Auftreten opferbereiter Helden in einem 1767 aufgeführten Trauerspiel polemisiert: Die darin auftretenden Christen hielten „gemartert werden und sterben“ für dasselbe wie „ein Glas Wasser trinken“. Gewichtiger ist sein Einwand, der „Charakter des wahren Christen“ sei doch untheatralisch. Damit entdeckt er im Innern des europäischen Theaters eine Unvereinbarkeit und somit ein grundlegendes Problem im Verhältnis von Religion und Literatur.

Diese Frage trifft auf ein Fach, das in den vergangenen Jahrzehnten dafür nicht gut gewappnet war. Denn die „neuere Literaturwissenschaft“, vordringlich befasst mit der Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, ist das Produkt einer Entwicklung, die die poetische Literatur von der religiösen Überlieferung ebenso wie die Philologie von der Bibelkritik getrennt hatte. Es dominieren Emilia-Interpretationen, in denen Lessings Dramaturgie mit seinem Trauerspiel abgeglichen wird. Dabei werden Widersprüche, Ungereimtheiten und psychologische Unwahrscheinlichkeit entdeckt, während seine theologiekritischen Schriften seltener zurate gezogen werden.

Dort aber kann man nicht nur studieren, wie er die Methode des Religionsvergleichs radikalisiert, wenn er in die Maske eines Mohammedaners schlüpft, der den Christen vorhält, um wie viel menschlicher eine Religion sei, die „nur“ einen Propheten, nicht aber einen Gottessohn anzuerkennen erfordert. In diesem Kontext findet sich auch der Wunsch, man möge etwas immer weglassen: „Das Blut der Märtyrer nämlich, welches ein sehr zweideutiges Ding ist.“ Die Zweideutigkeit, die Interpretatoren seinem Stück diagnostizieren, schreibt Lessing dem Blut des Märtyrers selbst zu. Was folgt daraus für Emilia?

Das wiedererweckte Interesse auch an den theologiekritischen Schriften Lessings ist nicht nur eine Antwort auf die Renaissance der Religionen nach 9/11, sondern auch Teil der kulturgeschichtlichen Wende in den Literaturwissenschaften. In ihrer Folge werden Themen erforscht, mit denen auch Lessings Trauerspiel in neuen, alten Zusammenhängen gesehen werden kann: sei es der politischen Theologie, die die Gegenstellung von Souverän und bürgerlicher Familienordnung im Stück betrifft, sei es die Geschichte von Märtyrern in verschiedenen Religionskulturen, welche sich vielgestaltig auch jenseits der christlichen Überlieferung darstellt.

In der Emilia gibt es zahlreiche Zitate von Märtyrer-Chiffren. So beruft die Heldin sich in der Schlussszene zunächst auf jene Jungfrauen, die sich in die Fluten gestürzt hätten, „um nichts Schlimmers zu vermeiden“ (als ihr selbst im Lustschloss des Prinzen droht), und doch Heilige sind, wobei sie die Verurteilung des Selbstmords in Augustinus’ Gottesstaat entstellt zitiert. Kurz darauf zitiert sie den Tod der Virginia, von der das 3. Buch von Livius’ Geschichte Roms berichtet, dass ihr Vater sie erstochen hat, um sie vor Gewalt und Sklaverei im Hause eines Herrschenden zu bewahren. Damit führt Lessing die Todesart des „noble death“ ein. Dieser ging historisch jenem christlichen Märtyrertyp voraus, wie er sich im 2. bis 4. Jh. n. Chr. herausbildete. Seither erst bedeutet Märtyrer – von griechisch martyr: Zeuge – Blutzeuge (Zeuge der Passion Christi).

Der „noble death“ der Antike umfasst Phänomene wie den Tod im Zweikampf, den Selbstmord des Sokrates und den Tod der Makkabäer während der römischen Okkupation. Gemeinsam ist die Todesart, nicht die Verbindung von Bekenntnis und Selbstopfer wie beim christlichen Märtyrer. Vor diesem Horizont wäre Lessings Trauerspiel ähnlich zu lesen, wie Hölderlin seine Übersetzungen von Sophokles’ Tragödien konzipiert hat: als Umkehr. Emilia Galotti macht das Tragische, das in der (christlichen) Entwicklung der Gattung verleugnet wurde, wieder sichtbar.

Dass der Dolch darin als „blutiger Zeuge“ bezeichnet wird, spielt auf den Blutzeugen an. So zweideutig wie das Märtyrerblut ist hier das Zeugnis des blutigen Dolches: Selbstmord und Mord. Ist die Waffe an die Stelle des Blutzeugen getreten, so ist der Märtyrertod zur Waffe geworden – zur Waffe des ehrbaren Bürgers gegen den Fürsten. Der wird damit dem Tyrannen ähnlich. Wenn nämlich die gottähnliche Souveränität des Fürsten diesen potenziell zum Tyrannen macht, so führt Lessings Stück uns diese Tyrannis im Schrumpfstadium vor. Dagegen hat die Janusköpfigkeit des barocken Herrschers im säkularisierten Trauerspiel ein Spiegelbild erhalten. Sie kann dazu führen kann, dass seine Gefühle in einem Ausnahmezustand gipfeln und ihn in einen Märtyrer verwandeln. Jener redet sich heraus, „dass Fürsten Menschen sind“, und schiebt die Schuld auf den teuflischen Hof-Intriganten. Dagegen kann der Pater familias, der in jedem unbewachten Schritt der Tochter bereits „genug zu einem Fehltritt“ sieht, sich den Schutz der Tugend nur so vorstellen, dass die Tochter nicht Mensch ist, dass heißt: nur durch ihre „Entfernung aus der Welt“.

Der Säkularisierung fürstlicher Souveränität geht in Emilia die Sakralisierung der Familie einher. Um Emilia als Heilige zu retten, muss sie sterben. Wenn der Vater sich am Ende gegenüber dem Fürsten auf den „Richter unser aller“ beruft und den gewaltsamen Tod Emilias als Mittel gerechter Zwecke wertet, dann bewegt er sich in einer Logik, die Walter Benjamin 150 Jahre später als Inanspruchnahme eines göttlichen Mandats kritisiert hat, wie sie Menschen nicht zusteht.

Zur Person:

Die Figur des Märtyrers gehört zu den aktuellen Forschungsprojekten des Berliner Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, das Sigrid Weigel (57) seit 1999 leitet. Gleichzeitig ist sie Vorstandsvorsitzende der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin. An der TU Berlin ist Weigel Professorin am Institut für Literaturwissenschaft. Sigrid Weigel, die in Hamburg studierte und habilitierte, lehrte in Marburg, Essen und Zürich, bevor sie 1998 Direktorin des Einstein-Forums in Potsdam wurde. Derzeit forscht sie unter anderem zur „Topographie pluraler Kulturen Europas“. Zuletzt veröffentlichte sie „Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften“ (München 2006). -ry

Die Serie im Internet:

www.tagesspiegel.de/geisteswissenschaften

Sigrid Weigel

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