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Muss das sein? Operationen am Knie sind „mengenanfällig“. Das heißt, sie lohnen sich finanziell für die Kliniken.

© Sven Hoppe, picture alliance / dpa

Ärztliche Zweitmeinung: Die Zwickmühle

Zwischen Orientierung für den Patienten und zusätzlicher Verwirrung: Beim Hauptstadtkongress diskutierten Ärzte über die Tücken der Zweitmeinung.

Mein Knie tut weh – aber muss ich deshalb sofort operiert werden? Stimmt die Diagnose, die mein Arzt gestellt hat? Oft verlassen Kranke die Praxis eines Arztes ratloser, als sie sie betreten haben. Es schwirrt ihnen der Kopf. Im Ratgeber für Patientenrechte, den die Bundesminister für Gesundheit und für Justiz zusammen mit dem Patientenbeauftragten der Bundesregierung herausgegeben haben, wird ihnen ein Weg empfohlen, um Sicherheit zu gewinnen: „Haben Sie Zweifel an der gestellten Diagnose oder der vorgeschlagenen Therapie? Grundsätzlich können Sie sich eine so- genannte ärztliche Zweitmeinung einholen.“

Was im Patientenrechtegesetz von 2013 als Anspruch von unschlüssigen Patientinnen und Patienten formuliert ist, wurde Mitte letzten Jahres im Versorgungsstärkungsgesetz konkretisiert: Das Recht, eine unabhängige zweite Meinung bei einem Mediziner einzuholen, der die Behandlung später aber nicht übernehmen darf, bestehe prinzipiell bei „planbaren mengenanfälligen Eingriffen“.

Mengenanfällig. Das ist eine vornehme Umschreibung dafür, dass es um Eingriffe geht, die sich für die Krankenhäuser finaziell lohnen – und von denen in Deutschland eher zu viele als zu wenige gemacht werden. Es geht zum Beispiel um das Implantieren künstlicher Knie- und Hüftgelenke. Ein Feld, auf dem Deutschland in der Welt-Champions-League mitspielt, wie die OECD-Studie von 2013 gezeigt hat. Auch andere Beispiele, etwa aus der Herzmedizin, lassen sich leicht finden.

Unversehens werden Patienten in ökonomische Konflikte verwickelt

Teure Innovationen in der Hochleistungsmedizin, aber auch politische (Fehl-)Anreize für den Einsatz aufwendiger Diagnostik und Therapie im Alltag von Kliniken und Praxen, das waren Themen, die auch die Teilnehmer des Hauptstadtkongresses Medizin und Gesundheit beschäftigten, die sich im Berliner CityCube trafen. Es passte also gut, dass dort unter anderem über die „Zweite Meinung“ diskutiert wurde.

Am Dauerbrenner-Thema chronischer Rückenschmerz machte Thorsten Wygold von der Universitätsmedizin Greifswald deutlich, dass Schmerzgeplagte oft eine wahre Odyssee hinter sich haben, bis ihnen endlich jemand einen vernünftigen Behandlungspfad eröffnet. Und dass sie zu oft operiert werden, ohne davon einen Nutzen zu haben. Im Auftrag der AOK Nordost übernimmt es seine Klinik für einen Teil des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern, hier eine zweite Meinung abzugeben. „Nach einem drei- bis vierstündigen interdisziplinären Assessment geben wir eine Behandlungsempfehlung und nehmen Kontakt zum behandelnden Arzt auf“, berichtete Wygold.

In Berlin und Brandenburg haben im Rahmen des Programms „RückenSpezial“ seit Mitte 2015 schon 300 AOK-Versicherte eine solche strukturierte zweite Meinung eingeholt. Alle hatten sie einen Einweisungsschein für eine Rücken-OP in der Tasche. „80 Prozent der Patienten haben danach die Operation erst einmal zurückgestellt“, sagte Harald Möhlmann von der AOK Nordost. Das Programm wird wissenschaftlich begleitet. Man wird also eines Tages sagen können, wie es mit diesen Schmerzpatienten weiterging. Und ob sie nicht später doch eine Operation brauchten.

Wer Vertrauen in die Ärzte verliert, holt sich Meinung drei, vier, fünf

Kritiker monieren, der Kranke könnte durch das wünschenswerte Konzept der zweiten Meinung unversehens in die ökonomischen Konflikte zwischen Politik und Krankenhäusern verwickelt werden. Dabei müssten ihn diese ja eigentlich gar nichts angehen. „Die zweite Meinung ist kein Instrument zur Mengenbegrenzung“, stellte Hartwig Bauer von der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie klar. „Sie soll dazu dienen, die Entscheidungskompetenz des Patienten zu stärken.“

Wenn es schlecht laufe, könnte dieser – statt selbst sicherer zu urteilen und zu entscheiden – gleich das Vertrauen in mehrere Mediziner verlieren und sogar in eine „Zweitmeinungszwickmühle“ geraten, gab Julia Seifert, Leitende Oberärztin am Unfallkrankenhaus Berlin, zu bedenken. Vielleicht mit der Folge, dass er weitere Termine ausmacht und nach der dritten, vierten und fünften Meinung fragt, ohne dadurch schlauer zu werden. Seifert findet es zudem problematisch, wenn der Rat nur telefonisch eingeholt wird oder wenn nicht transparent gemacht wird, welche Qualifikation Ärzte haben, die etwa am Zweitmeinungs-Telefon einer Krankenkasse sitzen. „Die medizinischen Fachgesellschaften fordern deshalb einen strukturierten Prozess und ein Experten-Vorschlagsrecht“, sagte sie.

Aber sucht sich nicht fast jeder und jede, wenn er oder sie ein Gesundheitsproblem hat oder mit einer ärztlichen Diagnose nach Hause kommt, heute ohnehin die Expertise zuerst einmal im Netz? Und ist danach „verwirrt auf hohem Niveau“, wie der Chirurg Bauer meint? Als Zweitmeinungs- Portal vor chirurgischen Eingriffen machte vor einigen Jahren „Vorsicht Operation“ von sich reden, heute aufgegangen im Berliner Unternehmen Medexo GmbH, zu dessen Team einige renommierte Mediziner im Ruhestand gehören. Es bietet eine kostenpflichtige Dienstleistung an, die allerdings von einigen Krankenkassen erstattet wird.

Kein Misstrauensvotum gegenüber einem "Halbgott in Weiß"

Christoph Schüürmann, Vorsitzender des Berufsverbands der niedergelassenen Chirurgen Deutschland e.V., findet es prinzipiell wichtig, dass Patienten eine zweite Meinung einholen können. Über die vielfältigen Initiativen dazu, von Krankenkassen bis zu Internet-Portalen, schüttelt der niedergelassene Unfallchirurg trotzdem den Kopf. „Wir brauchen das nicht, wir wenden das Verfahren ja ohnehin schon an, wenn Patienten unsicher sind“, sagte er. Man ermutige sie dann, einen Kollegen zu Rate zu ziehen. „Und auch wenn wir unsere Patienten ins Krankenhaus einweisen, ist das letztlich ein Zweitmeinungs-Verfahren.“

Bevölkerungsweite Befragungen zeigen, dass die Bürger sich Möglichkeiten wünschen, die Einschätzung eines weiteren Arztes zu hören. Und zwar vor allem, wenn sie oder ein Angehöriger an Krebs erkrankt sind. Die Behandlung ist dann zwar heute von Leitlinien bestimmt und wird im guten Fall auch in einem zertifizierten Tumorzentrum erfolgen, unter dessen Dach sich die Experten der verschiedenen Fachdisziplinen regelmäßig zu Tumorkonferenzen treffen. Doch das gilt noch immer nicht flächendeckend. Zudem ist die Unsicherheit bei diesen oft lebensbedrohlichen Erkrankungen besonders groß.

Klar ist: Es gilt nicht mehr als Misstrauensvotum gegenüber einem „Halbgott in Weiß“, wenn ein Patient vor der Behandlung mehrere Ärzte zu Rate zieht. Vor allem, wenn es sich um eine einschneidende Therapie handelt. Er hat schlicht das Recht dazu, und viele Ärzte fühlen sich entlastet, wenn er es wahrnimmt. Ein Fortschritt. Unklar bleibt indes: Wie und wo machen Menschen von diesem Recht Gebrauch – und wie kommen sie danach zu ihrer eigenen Entscheidung?

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