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Eine Drittklässlerin schreibt Übungssätze zu den Verben springen, tringen und hinken in ihr Schulheft.

© Jens Kalaene/ZB/dpa

Update

Bericht über die Sprache an den Schulen: Experten sehen keine Anzeichen für allgemeinen Sprachverfall

Verständnis für „Sprache im Werden“: Akademie für Sprache und Dichtung legt Bericht zur Lage des Deutschen in der Schule vor und mahnt Chancengerechtigkeit an.

So erzählt ein Grundschulkind in der 3. Klasse einen Film nach: „Und die sind auf der eis gerutst. Danach die sind wieder nach hause gekommt.“ Und so chattet eine Jugendliche auf ihrem Handy: „Boah hab schon meinen zweiten Kaffee und der is so widerlich!!! -.-“

Wer dann noch hört, wie sich Schüler:innen auf der Straße unterhalten, in Wortkaskaden, die mit jugendsprachlichen Begriffen wie „Digga“ und „Wallah“ gespickt sind, mag in die Klage über den Sprachverfall des Deutschen im 21. Jahrhundert einstimmen.

Genau diese Klage war der Anlass für die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, ihren dritten Bericht zur Lage der deutschen Sprache der „Sprache in den Schulen“ zu widmen. Das schreiben die Sprachdidaktiker:innen und Projektleiter:innen Ursula Bredel und Helmuth Feilke in dem am Mittwoch in der Berlin-Brandenburgischen Akademie vorgestellten Berichtsband, der von der Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften mitherausgegeben wird.

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Untersucht wurde von einem vielköpfigen Autor:innenteam die Rolle der Schule bei der Sprachentwicklung von Kindern und Jugendlichen. Sie sei der Ort, an dem „Sprachkompetenz im mündlichen wie im schriftlichen Gebrauch ausgebildet, geformt und eingeübt wird“, heißt es.

Milder Blick auf die Sprachentwicklung von Kindern

Die auch unter Linguisten und Sprachdidaktikerinnen weit verbreitete Annahme, dass der Sprachverfall zunehmend fortschreite und „die Schulen“ dafür mitverantwortlich seien, sehen die Akademiemitglieder augenscheinlich recht entspannt – und setzen sie in eine historische Perspektive. Solche Klagen gebe es seit dem 17. Jahrhundert bis heute in Aussagen „pädagogischer Freizeitautoren“, zuletzt beispielsweise in „Chill mal, Frau Freitag. Aus dem Alltag einer unerschrockenen Lehrerin“.

[Schon 2014 entdeckte das Goethe-Institut in der Jugendsprache eine neue "Kultur des Witzes": Unseren Bericht finden Sie hier]

Erforscht wurde nun auch nicht der Sprachgebrauch von rund elf Millionen Schüler:innen und 800.000 Lehrkräften. Das sei ein zu weites Feld, zumal neben Deutsch viele andere Sprachen „die Sprachwirklichkeit auch in den Schulen prägen“. Diese Herausforderung kommt aber durchaus in den Einzelstudien des 330-seitigen Berichtsbands vor, wenn etwa die Berliner Sprachdidaktikerin Beate Lütke (Humboldt-Universität) erklärt, warum eine Erstklässlerin mit türkischer Familiensprache neben das Bild eines Flugzeugs „Fulukzoeuk“ schreibt.

Lehrkräfte sollten die Herkunftsprachen ihrer Schüler kennen

Dabei handele es sich im ersten Wortteil um einen „Sprossvokal“ aus dem Türkischen, das keine zwei aufeinanderfolgenden Konsonanten kennt. Deshalb sagen und schreiben türkische Muttersprachler mitunter Borot (für Brot) und schewer (für schwer), erläutert Lütke. Wichtig ist also, dass die Lehrkräfte zumindest Grundzüge der Herkunftssprachen ihrer Schüler:innen kennen.

Als Ziel des Schulunterrichts – in allen Fächern – nennen Bredel und Feilke das Einüben der Bildungssprache, die eine „fächerübergreifende Mittlerfunktion zwischen der Sprache der Fachwissenschaften und der Sprache des Alltags“ habe. Die sprachliche Bildung in der Schule geschieht demnach vor allem durch eigenes Schreiben und Lesen, aber auch indem Lehrerinnen und Lehrer „als Sprachvorbilder kompetentes Sprachhandeln modellieren“.

Eine Gruppe von etwa 15-Jährigen Schüler:innen geht durch das Foyer einer Schule.
Ziel des Schulunterrichts ist, dass alle die "Bildungssprache" beherrschen. Auch mit eigenen Regeln auf dem Weg dahin.

© Philipp von Ditfurth/dpa

Dabei sollten die Lehrkräfte aber keineswegs die Bildungssprache als „Visitenkarte für die Zugehörigkeit zum Bildungspublikum“ vor sich hertragen, sondern vielmehr das Konzept der „Lernersprache“ akzeptieren. Das ist die von den Schüler:innen gebrauchte Sprache, in der Wortschatz, Grammatik und Textformen noch unfertig sind und weiter ausgebildet und geformt werden können, wie Bredel und Feilke erklären.

Gegenüber dieser „Sprache im Werden“ sollten die Leser:innen des Berichts „das Maß der Norm beiseitelegen und darauf schauen, wie Schülerinnen und Schüler die anzueignende Sprache aufbauen“, plädieren die Sprachforschenden. „Auf dem Weg zur Sprachbeherrschung“ würden die Lernenden „eigenen Regeln folgen“.

Wenn Genus- und Kasuszuweisungen noch Baustellen sind

Diese Wege beschreibt Beate Lütke exemplarisch an der zitierten Filmnacherzählung eines Drittklässlers. Das Kind sei mit Türkisch und Kurdisch aufgewachsen und lebe seit 36 Monaten in Deutschland. Der Satz „Und die sind auf der eis gerutst“ zeige, „dass das Kind mit dem Erwerb von Verbformen und Satzmustern befasst ist und Genus- und Kasuszuweisungen darüber hinaus eine weitere ,Baustelle‘ bilden“.

[Sprachwandel ist notwendig, schreibt FU-Linguist Anatol Stefanowitsch in einem Gastbeitrag: "Der Professor, die Professor, das Professor"]

Die Partizipbildung sei bereits erworben (sind … gerutst) und das Kind arbeite an der Aneignung einer komplexeren Struktur, in der ein Adverb an den Äußerungsanfang und das Subjekt hinter das finite Verb platziert wird (danach sind sie wieder nach Hause gekommen). Dass dies noch nicht ganz gelinge (danach die sind), stelle eine „Übergangsstruktur“ dar. Das gelte auch für die „Übergeneralisierung am Partizip“, bei der eine bereits erworbene Regel (Endung -t beim Partizip regelmäßiger Verben) auf ein unregelmäßiges Verb angewendet wird (gekommt statt gekommen).

Ob nun jede Deutschlehrkraft in der Grundschule willens und zeitlich in der Lage ist, so kenntnisreich und verständnisvoll auf die „Sprache im Werden“ einzugehen: Lütkes lesenswerte Analyse bildet den Stand der Forschung zu Deutsch als Zweitsprache ab. Und sie sollte nach Ansicht der Akademie für Sprache und Dichtung zum Standard im Umgang mit der heutigen Schülergeneration werden.

Weniger Kommas, längere und komplexere Texte

Auch die weiteren Befunde, die das Autor:innenteam des Berichtsbandes vorlegt, zeichnen ein „differenziertes Bild“, nach dem keinesfalls die Rede von einem allgemeinen Sprachverfall sein könne. So gebe es zwar heute deutlich mehr Probleme mit der Kommasetzung und der Großschreibung als etwa in den 1970er Jahren. Ein Grund dafür sei, dass der systematische Rechtschreibunterricht seitdem zurückgefahren wurde.

[Die Sprache in den Schulen - Eine Sprache im Werden. Dritter Bericht zur Lage der deutschen Sprache. Erich Schmidt Verlag, Berlin 2021. 328 Seiten, 29,95 Euro; auf der Verlagsseite steht ein kostenloser Download bereit]

Zum anderen seien die von Schüler:innen produzierten Texte insgesamt länger geworden und sie verfügten über einen größeren Wortschatz, wobei aber „formelle Normen einen geringeren Stellenwert“ hätten. Dirk Betzel, Deutschdidaktiker an der PH Ludwigsburg, fordert in seinem Aufsatz deshalb einen Rechtschreibunterricht, der bei den Kindern „individuelle Problemlösungsprozesse“ anstößt.

Am ersten Schultag stehen die Namen der Erstklässlerinnen - u.a. Laura, Maja, Taiga, Azra und Niclas - in bunter Kreideschrift auf einer grünen Tafel.
Hoffnungsvoller Anfang: Doch nicht bei allen Kindern gelingt es den Schulen, sie erfolgreich beim Spracherwerb zu unterstützen.

© imago images/blickwinkel

Konkret empfiehlt Betzel, Großschreibung über syntaktische statt über lexikalische Merkmale zu vermitteln. Werde eingeübt, Substantive großzuschreiben, falle es den Schülern schwer, in höheren Klassenstufen etwa auch substantivierte Verben großzuschreiben. Laute die Regel dagegen, dass alle attributtierbaren Ausdrücke großgeschrieben werden, seien die Grundlagen gleich breiter angelegt. Ein Beispielsatz dafür: „Die (lieben) Kinder machen beim (lustigen) Spielen (großen) Lärm.“

Unklar, ob Social Media-Varianten die Sprache selbst verändern

Mit der vielgescholtenen Kommunikation von Kindern und Jugendlichen in den „neuen“ Medien gehen die Sprachwissenschaftler:innen ebenfalls weniger hart ins Gericht als die öffentliche Meinung. Bredel und Feilke sehen hier lediglich „neue schriftsprachliche Varietäten der Social Media-Plattformen, die das schriftsprachliche Repertoire ausdifferenzieren“. Dabei sei noch unklar, ob sich dadurch die Sprache selbst verändert.

Mitentscheidend sei, „welchen Bildungsauftrag sich die Schule gibt, welche Rolle die Standardsprache in den Schulen weiter spielt, mit welchen Instrumente sie gefördert wird und welche Ressourcen dafür zur Verfügung stehen“.

[Öffentlich vorgestellt wird der Bericht am Mittwochabend, 29. September 2021, in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Dazu gibt es einen Livestream auf YouTube]

Allerdings haben nicht alle Schüler:innen die gleichen Chancen, „ihre Sprache von der alltäglichen Mündlichkeit zur bildungssprachlichen Schriftlichkeit zu entwickeln“, stellt der Bericht fest. Kindern aus bildungsfernen Milieus bleibe die dafür notwendige Unterstützung in Schulen und Familien oft verwehrt, wird kritisiert.

Wer nicht die Anlagen zu einer Bildungssprache von zu Hause mitbringe, werde „in der Schule in vielen Bereichen abgehängt“. In Schularten unterhalb des Gymnasiums, in denen sich solchermaßen Benachteiligte sammeln, hätten sie dann wiederum „zu wenige bildungssprachliche Lerngelegenheiten – und fallen weiter zurück“.

Ursula Bredel, die auch Vizepräsidentin der Sprachakademie ist, bringt es in der Pressekonferenz auf den Punkt: "Es gibt genau noch eine Chance: Die Schule muss das leisten! Wir können die Eltern nicht ändern, aber wir können die Lehrerinnen und Lehrer besser aus- und weiterbilden."

Wie wird in Deutschstunden und Familiengesprächen diskutiert?

Inwieweit Lehrkräfte solche "bildungssprachlichen Lerngelegenheiten" schaffen, untersucht Vivien Heller, Sprachdidaktikerin an der Bergischen Universität Wuppertal. Sie hat Aufzeichnungen von 106 Deutsch-Stunden in 7. Klassen ausgewertet. Ihre Fragestellung: Wie werden diskursive Praktiken im Unterricht eingeübt?

"Wir lernen, indem wir uns einen komplexen Sachverhalt selbst erklären", sagt Heller. Dies geschehe in der Schule beispielsweise, wenn die Klasse über einen gemeinsam geschauten Film diskutiert. In einem von Heller untersuchten Fall war das der britische Bergarbeiter- und Tanzfilm "Billy Elliot". Wird von einer Schülerin gefragt, warum die Arbeiter im Film streiken, bietet eine Mitschülerin eine Erklärung an, die sie und die anderen auf ihrem Weg zur Bildungssprache voranbringt. Die Lehrkraft sekundiert, indem sie etwa einen fehlenden Fachbegriff einwirft.

Den Kindern Gesprächsräume öffnen

Erzählen, erklären, argumentieren - das lernen Kinder und Jugendliche zuerst im familiären Tischgespräch. Heller und eine Kollegin haben deshalb parallel 31 Stunden Familiengespräche in Eltern-Kind-Konstellationen analysiert, die sich unter anderem hinsichtlich der Bildungsabschlüsse der Erwachsenen unterschieden.

Gehören Gespräche über Bücher und Filme zum kommunikativen Alltag einer Familie, hören die Eltern interessiert zu und gewähren sie Gesprächsraum, erläutert Heller, geben sie den Kindern natürliche Lerngelegenheiten - und gute Voraussetzungen, um auch am Unterrichtsgespräch teilzunehmen.

Doch häufig seien es hauptsächlich die Eltern, die reden und erklären. Oder es werde gar nicht vertieft über Lektüren und Gesehenes, sondern nur oberflächlich über Alltägliches gesprochen. Auch Heller will bei den Lehrkräften ansetzen: Sie müssten das Unterrichtsgespräch so gestalten, "dass Schülerinnen und Schüler mit heterogenen Voraussetzungen vielfältige Lerngelegenheiten für das Erklären und Argumentieren erhalten".

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