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Die Annexion der ukrainischen Regionen Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja wurde propagandawirksam auf dem Roten Platz gefeiert.

© AFP/ALEXANDER NEMENOV

Forschung zum autoritären Russland: Die Demokratie scheiterte schon vor 30 Jahren

Wie sich Putins Herrschaft derart verfestigen konnte, diskutierten in Berlin der russische Soziologe Lew Gudkow, der Historiker Karl Schlögel und eine Rechtsexpertin. Die Gründe seien schon in den Neunzigerjahren zu suchen.

Warum lehnt sich das russische Volk im Krieg gegen die Ukraine nicht endlich auf? Wenn auch klar ist, dass Putins Propaganda mächtig ist und die soziale Ungleichheit im Land groß, verwundert doch die anhaltende totalitäre Lähmung des Landes.

Die Geschichts- und Sozialwissenschaften versuchen zu erklären. Für den russischen Soziologen Lew Gudkow vom russischen Meinungsforschungsinstitut Lewada wurzelt der „Aufstieg Putins und seine gesamte Politik“ bereits im Ringen um Reformen nach der Perestroika, wie er in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Osteuropa“ ausführlich erklärt.

Der Konflikt führte 1993 zu einer klaren Schwächung des Parlaments. Seine Überlegungen dazu, wie die kurze Hoffnung auf ein demokratisches Russland zugrunde ging, diskutierte Gudkow jetzt in der Berliner Akademie der Wissenschaften mit dem Viadrina-Historiker Karl Schlögel und der Rechtswissenschaftlerin Caroline von Gall.

Einig waren sich die drei über die Konstanten, die die russische Politik und Gesellschaft seit der Sowjetunion prägen. Gudkow zufolge ist dabei zum einen entscheidend gewesen, dass der Sicherheitsapparat, allen voran der Geheimdienst KGB, nie reformiert wurde und zudem der stalinistische Terror nicht kollektiv aufgearbeitet.

Der Soziologe Lew Gudkow und Rechtswissenschaftlerin Caroline von Gall diskutierten in der Berlin-Brandenburger Akademie der Wissenschaften (BBAW).

© BBAW/Maxie Liebscher

Zum anderen habe die rasante Privatisierung der Wirtschaft, die viele Verlierer hervorbrachte – und wenige Gewinner, überwiegend aus der alten politischen Elite – zu einer „Trotz- und Gegenreaktion einer enttäuschten Bevölkerung“ geführt. Die Inflationsrate der Konsumgüter betrug zwischen 1990 und 1991 140 Prozent.

Sehnen nach alter Stärke in der Wirtschaftskrise

Schon Anfang der Neunzigerjahre habe sich abgezeichnet, dass sich das Volk wieder zunehmend nach „harter Führung und einstiger Stärke“ sehnte, sagte Gudkow. Auch Boris Jelzin, Russlands ersten liberal-demokratischen Präsidenten, sieht der Sozialforscher in der Verantwortung. Dessen Interessen hätte „Männer aus den Geheimdienstapparaten wieder in einflussreiche Positionen“ gebracht, schreibt er in seinem Osteuropa-Aufsatz.

Das Volk sehnte sich nach harter Führung und einstiger Stärke.

Lew Gudkow, russischer Soziologe

Auch die Ostrecht-Expertin Caroline von Gall hob in ihrer Analyse des Scheiterns der russischen Demokratie Jelzins Rolle hervor und verwies auf die Verfassungskrise von 1993. Weil sich das Parlament damals gegen die Reformen des Präsidenten stellte, beschoss das Militär das Regierungsgebäude.

Der Konflikt endete damit, dass im Dezember die erste demokratische Verfassung verabschiedete wurde, allerdings mit einer Machtbündelung beim Präsidenten. Das Jelzin-System habe sich im In- und Ausland gerechtfertigt, so von Gall: „Wir wollen zwar die europäischen Werte, aber müssen jetzt erstmal den Staat stärken.“

Putins Herrschaft stützte sich immer auf Kriege

Gudkow erinnerte daran, dass Krieg und Militärinterventionen für Putin schon immer das Mittel waren, um seine Herrschaft zu festigen und auszubauen. „Einen Höhepunkt hat seine Machtübernahme nach dem zweiten Tschetschenienkrieg 2009 erreicht, einen weiteren nach der Annexion der Krim.“ Heute seien die Zustimmungswerte für seine Führung wieder so hoch wie 2014. Die Propaganda-Erzählungen von der Bedrohung durch äußere Feinde, die diese Strategie begleiten, sind hinreichend bekannt.

Die Herrschaft Putins ist Gudkow zufolge gefestigt. Das Land profitiert von der Kriegswirtschaft und den gestiegenen Ölpreisen. „Tatsächlich hat sich die Wirtschaft nicht verschlechtert. Der Wohlstand in der Provinz wächst.“ Nach Zahlen des Lewada-Instituts seien die Pro-Kopf-Einnahmen um 20 Prozent gestiegen. Für Gudkow ist klar, dass es eine Niederlage Russlands im Krieg gegen die Ukraine braucht: „Das würde Putin die Legitimität entziehen.“

Trotz der Analysen bleibt Ratlosigkeit

Bei all den Geschichtsexkursen hinterlässt der Diskussionsabend ein Gefühl der Ratlosigkeit. Und damit den Eindruck, dass westliche Regierungen entweder naiv oder ein wenig ignorant waren, wenn sie trotz aller Gräueltaten Russlands im In- und Ausland so lange auf die liberale Agenda „Wandel durch Handel“ setzten.

Selbstkritisch bemerkte die deutsche Russland-Koryphäe Schlögel am Ende: „Ich habe erst ganz spät, erst nach dem Maidan und der Krim bemerkt, dass in Russland etwas ganz schiefläuft.“ Sein langjähriger Freund und Kollege Gudkow habe schon früh vor der Entwicklung gewarnt. Doch er selbst habe gehofft, dass die Abkehr von der Sowjetideologie und der neue Fokus auf Konsum „die Gesellschaft normalisiert.“

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