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So könnte Yanliaomyzon occisor, ein 60 Zentimeter langes Neunauge, ausgesehen haben.

© dpa/HEMING ZHANG

Vampire der See: Diese Tiere ernähren sich von Fleisch und Blut

Aalartiger Körper, rundes Maul voller Zähne: 160 Millionen Jahre alte Fossilien werfen ein neues Licht auf die Entstehungsgeschichte der Neunaugen – und wie sie zu ihrem seltsamen Aussehen gekommen sind.

Von Alice Lanzke, dpa

Über einen halben Meter lang, ein rundes Gebiss und ein Alter von 160 Millionen Jahren: Zwei außergewöhnlich gut erhaltene Fossilien geben Einblick in die bislang wenig verstandene Entwicklungsgeschichte der Neunaugen. Wie eine chinesische Forschungsgruppe im Fachblatt „Nature Communications“ vermutet, könnte ein größeres Nahrungsangebot Aussehen und Lebensweise der Tiere deutlich verändert haben.

Auf den ersten Blick scheinen Neunaugen (Petromyzontiformes) einem Science-Fiction-Film entsprungen: Die fischähnlichen Wirbeltiere haben einen aalartigen, langgestreckten Körper, ein rundes, mit Hornzähnen bestücktes Maul und sieben seitliche Kiemenspalten. In historischen Beobachtungen wurden diese Kiemenspalten zusammen mit den Nasenöffnungen fälschlicherweise für Augen gehalten, wodurch sich ihr Name erklärt. Manchmal werden sie auch als „Vampirfisch“ bezeichnet.

Neunaugen beißen auch Menschen

Einige der mehrere Dutzend umfassenden Arten leben stationär in Süßwasser-Seen und Flüssen. Daneben gibt es aber auch wandernde Arten, die als erwachsene Tiere ins Meer schwimmen, wo sie parasitär leben: Mit ihrem kreisförmigen Maul saugen sie sich an Fischen fest, raspeln Fleischstücke heraus und saugen Blut. Größere Fische tragen von diesen Angriffen meist nur kreisrunde Narben zurück, während jüngere und kranke Fische daran sterben können – selbst Menschen sind vor den ungiftigen, aber schmerzhaften Bissen nicht gefeit.

Die fossilen Neunaugen deuten darauf hin, dass die Gruppe nicht so konservativ ist wie bisher angenommen.

Forschungsgruppe um Feixiang Wu von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften

Die lebenden Fossilien gibt es bereits seit etwa 400 bis 500 Millionen Jahren, wobei die frühesten Neunaugen des Paläozoikums – also des Erdzeitalters von vor etwa 541 Millionen Jahren bis vor etwa 252 Millionen Jahren – nur wenige Zentimeter groß waren. Zudem fehlten ihnen die kräftigen Fresswerkzeuge der heutigen Exemplare.

Entsprechend unwahrscheinlich ist es, dass sich die frühen Neunaugen bereits in andere Meeresbewohner verbissen, zumal diese dicke Schuppen hatten. Ebenso wird davon ausgegangen, dass die Neunaugen des Paläozoikums nicht die radikale Umwandlung vom Larven- zum Erwachsenen-Stadium heutiger Vertreter durchmachten: Moderne Neunaugen graben sich als wurmartige, augenlose Larven, auch Querder genannt, nach dem Schlüpfen in Kies ein, nur der Kopf schaut noch heraus und filtert Plankton aus dem Wasser. Nach mehreren Jahren erfolgt dann die dramatische Metamorphose zum erwachsenen Tier.

Illustration der rekonstruierten Fossilien aus China: Neunaugen sind kieferlose Raubtiere, die schon im Zeitalter der Dinosaurier gelebt haben. 

© dpa/HEMING ZHANG

Wann sich die komplexen Zahnstrukturen und der mehrstufige Lebenszyklus der Neunaugen entwickelt haben, war bislang unklar. Hier gibt nun die Studie einer Forschungsgruppe um Feixiang Wu von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften neue Hinweise.

So beschreiben die Wissenschaftler ungewöhnlich große und gut erhaltene Fossilien zweier Arten, die in der Lagerstätte Yanliao Biota in Nordchina entdeckt wurden und etwa 160 Millionen Jahre alt sind. Das längere Neunauge, das mehr als 60 Zentimeter lang ist, wurde auf den Namen Yanliaomyzon occisor getauft, die andere Neunaugen-Art auf den Namen Yanliaomyzon ingensdentes.

Wie die Forschungsgruppe ausführt, zeigen die versteinerten Mundscheiben und Gebissstrukturen, dass Neunaugen bereits in der Jura-Zeit – also dem Erdzeitalter vor etwa 201 Millionen bis vor etwa 145 Millionen Jahren – stärkere Fresswerkzeuge und eine größere Körpergröße entwickelt hatten sowie vermutlich räuberisch lebten. Der Fressapparat der Tiere unterscheide sich deutlich von dem ihrer paläozoischen Verwandten, ähnele aber überraschenderweise dem der heutigen Neunaugen-Gattung Geotria, welche die südliche Hemisphäre bewohnt, heißt es in der Studie.

Breiteres Nahrungsangebot

Die Autoren vermuten die Ursachen für diese Veränderungen in einem breiteren Nahrungsangebot während der Jura-Zeit, konkret: einer größeren Zahl und Vielfalt an Fischen. Die Neunaugen von damals waren wahrscheinlich Fleischfresser und noch keine Blutsauger wie einige heutige Arten.

Illustration der rekonstruierten Fossilien aus China: Ursprünglich haben Neunaugen vermutlich nur Fleisch gefressen, aber kein Blut gesaugt.

© dpa/HEMING ZHANG

Diese Ernährung habe zu einer höheren Energieaufnahme und einem größeren Wachstumspotenzial geführt. Das habe die Ausbreitung der Tiere über weite Entfernungen begünstigt und dürfte „einen subtilen Einfluss auf die spätere Geschichte der Gruppe ausgeübt haben, einschließlich der Entstehung und Verbreitung der modernen Linien“, heißt es in der Studie. Zusammen mit den optimierten Fresswerkzeugen und der größeren Körpergröße habe sich schließlich auch der mehrstufige Lebenszyklus vom Ei zur Larve zum erwachsenen Tier entwickelt.

Zudem zeigt die Studie, dass der Ursprung der modernen Neunaugen auf der Südhalbkugel liege und nicht auf der Nordhalbkugel, wie bislang angenommen. Vermutlich hätten sich Neunaugen in ihrer mehrere hundert Millionen Jahre umfassenden Geschichte stärker verändert als bisher gedacht, schreiben die Autoren.

„Die fossilen Neunaugen deuten darauf hin, dass die Gruppe nicht so konservativ ist wie bisher angenommen, und dass die Veränderungen in der Ernährungsbiologie wahrscheinlich die Ursache für die evolutionäre Vergrößerung des Körpers und die ,Modernisierung’ der Lebensweise während der Jura-Zeit waren.“

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