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Tief eintauchen ins Rot: Aleksandra Kasubas „Spectral Passage“ (1975) in der Ausstellung „In anderen Räumen“.

© Foto: Milena Wojhan

Zwei Ausstellungen zum Thema Raum im Münchner Haus der Kunst: Im Wechselbad der Gefühle

Environments gestern und heute: Wo der Besucher zur Katze werden soll und KI neue Sphären schafft. Humanoide Wesen treten miteinander in Interaktion.

Zurück in den Uterus? Nachdem man sich mühsam durch zwei aufgeblasene Plastikwülste in Lea Lublins Skulptur „Fluvio Subtunal“ (1970) gezwängt hat, gerät das Rebirthing ganz lustig, vorbei an Bällen, die wie Eizellen gestaltet sind. Ein bunter Plastiktunnel. Aber auch ein Reflex auf die Zensur sexueller Themen während der argentinischen Diktatur und. Zugleich ist er von einem Unterwassertunnel unter dem Río Paraná inspiriert, der damals gebaut wurde.

Düster wie in der Geisterbahn ist es dagegen in Lygia Clarks Hindernis-Korridor „Das Haus ist der Körper“, in dem man über Bälle stolpert, von einem Gebläse angepustet wird und sich in herabhängenden Fäden verheddern kann. Die Brasilianerin schuf den Hindernisparcours im Jahr 1968 – als sie vor der Militärdiktatur in ihrer Heimat nach Paris geflohen war. Zeitgeschichte wird Raumgefühl.

Aufforderung zum Sitzen, Liegen, Tanzen

Im Vorraum der Schau „In anderen Räumen“ soll man die Schuhe ausziehen. „Treten Sie in die Kunstwerke ein: Je nach Werk können Sie gehen, sitzen, liegen, tanzen…“, lautet die animierende Spielanleitung, und weiter: „Werden Sie zur Katze.“

Zu sehen, nein: ganzkörperlich zu erleben sind zwölf historische Environments, teils aufwändig rekonstruiert. Ein Environment ist eine zum begehbaren Raum erweiterte Skulptur, das sinnliche Gegenstück der heute verbreiteten Installation. Berühmtes (aber in München nicht gezeigtes) Beispiel: Niki de Saint Phalles Gigantin „Hon“, in die man durch eine Riesenvagina eindrang. Das Genre ist, nun ja, ausgesprochen uteral.

Die Münchener Schau gerät zum emotionalen Wechselbad. Neben Clarks düsterem Environment ist eine von Tania Mouraud konzipierte Kammer aufgestellt, in der grelles Licht und starke Hitze herrschen („We used to know“). Und wer in Faith Wildings „Womb Room“ verharrt, wähnt sich in einem (kunstvoll gewebten) Spinnennetz.

Andererseits: die Wohlfühlräume. Von Marta Minujín, einer Pionierin des Environments, stammt eine Höhle aus bunten Kissenwülsten, in der man einschlummern möchte. In Judy Chicagos lichtdurchflutetem „Feather Room“ darf man nach Herzenslust in einem Meer künstlicher Daunen herumtoben. 

Bällebad? Nein, politische Aussage

Unterkomplex? Wer hier Bällebäder in Möbelhäusern assoziiert, ignoriert die historische Ausrichtung der Schau, die eine Zeitspanne zwischen 1956 und 1976 absteckt und den verdrängten Anteil von Künstlerinnen an der Raumkunst hervorhebt. Angesichts des Überschusses an Erlebnis-orientierter Konsumkultur wirkt das Environment schon wieder museal. Was die Bedeutung der großartigen Themenschau kein bisschen schmälert.

Sie findet im Obergeschoss des Museums gleichsam ihre Fortsetzung. In der Soloschau „Toleranzfenster“ können die Schuhe an den Füßen bleiben, denn WangShui, 1986 in Texas geboren, schließt uns virtuelle Räume auf. Virtualität und auch Immersion sind nichts unbedingt Neues, sogar von einem guten Roman kann man sozusagen verschlungen werden. Im Digitalzeitalter hat sich der Möglichkeitsraum allerdings enorm ausgedehnt, bis hin zu einer bedenklichen Allmacht der Algorithmen.

Mehrkanal-Installation von WangShui.

© HDK/Wang Shui

Leben wir Smartphone-Nutzer:innen nicht schon längst ein second life im Digitalen? WangShui scheint darin weniger ein Problem denn eine Chance zu sehen: Die ausgestellten Werke sind als Kooperation von Künstler*in und KI entstanden. WangShui malt Bilder. Die Malereien bilden einen Datensatz, den eine KI zu neuen Kompositionen weiterentwickelt. WangShui realisiert die zwischen Figuration und Abstraktion fluiden Gemeinschaftswerke dann auf großen Aluminiumtafeln mithilfe von Sandpapier und Ölfarben. Menschen kommen dort nicht vor.

Ein Champagnerglas oder eine schwarze Limousine mag an die Reality-TV-Shows wie „The Bachelor“ erinnern, eine für WangShui wichtige Quelle. Hin und wieder ragen aus den Alu-Bildern skulpturale Tintenfischarme. Sie erinnern an die Aliens in Octavia Butlers literarischer Science-Fiction-Trilogie „Xenogenesis“: Tentakelwesen, mit denen Menschen in dieser Zukunftsvision hybride Nachkommen zeugen.

„Certainty of the Flesh“ heißt die nach einem Zitat aus Butlers Romantrilogie benannte Videoinstallation. Die mehr oder weniger humanoiden Wesen, die im digitalen Bildraum auftauchen, interagieren miteinander wie Akteur:innen einer außerirdischen Hyperreality-Show. Produziert wurde das seltsame, aber fesselnde Spektakel mithilfe von Akteur:innen, deren Bewegungen mit der Motion-Capture-Technik aufgezeichnet wurden. Die Gesamtchoreografie wurde einem Programm namens Deep Reinforcement Learning überlassen.

Es gehe in der Kunst um Bewusstseinserweiterung, hat WangShui in einem TV-Interview erklärt, „mir ist gleich, ob die Umwelt oder eine Maschine den Anstoß dazu gibt“. Wird die KI in Zukunft Sparringspartner und Teamkollegin sein? Oder doch die nächste Atombombe, vor der ausgerechnet die Chefs eines KI-Konzerns gewarnt haben? WangShui will offenbar von den Algorithmen lernen, was es heißt, ein Mensch zu sein. Darüber sollte man wirklich nachdenken. Wenn man nicht gerade Katze ist.

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