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Filiz Güngör und Zeliha Zafer fahren mit dem Shuttlebus vom CHP-Büro in Neukölln zum Konsulat in Westend. Ercan Yaprak ist der Organisator.

© David Heerde für den Tagesspiegel

Mit dem Shuttle zur Wahl: Türkische Oppositionspartei mobilisiert Wähler in Berlin

Zehntausende Berliner können bei der türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahl mitwählen – die Oppositionspartei CHP hat einen Fahrdienst zum Konsulat eingerichtet.

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Erçan Yaprak steht vor dem Parteibüro in der Boddinstraße und diskutiert. Der Bezirksvorsitzende der CHP Berlin-Neukölln organisiert seit Ende April einen Fahrservice für Berliner Wähler – von hier zum türkischen Konsulat in Westend. Die CHP ist die größte türkische Oppositionspartei. Sie wurde vor hundert Jahren vom Staatsgründer Atatürk aufgebaut und ist seit den 60er-Jahren sozialdemokratisch geprägt.

Für diese Wahl schloss sie sich mit fünf anderen Parteien zum „Bündnis der Nation“ zusammen. Das Bild ihres Präsidentschaftskandidaten, Kemal Kılıçdaroğlu, klebt auf allen sieben Shuttles, die viermal täglich hier abfahren und in den letzten Wochen Hunderte zum Wählen brachten. 

Aus Sicht des Türkischen Bunds Berlin-Brandenburg (TBB) bewegen die Wahlen in der Türkei derzeit viele Menschen aus der Community in Berlin. „Wir erleben, dass das Interesse diesmal größer ist als bei den vorangegangenen Wahlen“, sagt TBB-Vorstandssprecherin Ayşe Demir. „Viele, die einen Regierungswechsel wollen, sehen diesmal die Chance dafür.“ Die Menschen mobilisierten sich diesmal stark gegenseitig, an den Wahlen teilzunehmen.

Sie haben Erdogan gewählt das haben sie davon. Ich hoffe, dass sie das endlich verstanden haben.

Filiz Güngör

Am Shuttle-Stopp in Neukölln ist erst mal nicht viel los, es wird Tee getrunken und geraucht. Doch langsam findet sich eine Gruppe zusammen. Im Shuttle hängt eine Wahlempfehlung: Alle vier Kandidaten sind aufgeführt, unter Kılıçdaroğlus Bild steht „Evet“ – ja. Auf der Hermannstraße wird haltgemacht. Eine blinde Frau und eine mit Rollator steigen zu. Zu neun im Bus ist es eng. Auch Zeliha Zafer und Filiz Güngör fahren mit. Die beiden Neuköllnerinnen kamen vor Jahrzehnten als junge Frauen mit ihren Ehemännern nach Berlin. Sie wuchsen in der südlichen Region um Antakya auf, die fatal vom Erdbeben im Februar getroffen wurde. Beide haben viele Verwandte verloren.

„Es hat die halbe Familie erwischt“, sagt Güngör. Sie beschreibt, während sie mit den Tränen kämpft, wie sie mitten in der Nacht die Nachricht vom Erdbeben erreichte und sie am nächsten Morgen im Fernsehen die unvorstellbare Zerstörung sah. Sie macht Erdoğans Baupolitik für die vielen Verluste verantwortlich: „Er ist schuldig, viele Menschen sind wegen ihm gestorben.“ Zafers Eltern haben überlebt, sie wohnen jetzt in einem Heim.

Doch das Leben ist hart, die Inflation hoch, Armut weit verbreitet. „Das türkische Volk kann keine Zwiebeln, kein Fleisch mehr kaufen, stell dir das mal vor“, sagt Güngör entgeistert und fügt hinzu: „Sie haben Erdoğan gewählt, das haben sie davon. Ich hoffe, dass sie das endlich verstanden haben.“ 

Der Einfluss der Wirtschaftskrise auf den Ausgang der Präsidentschaftswahl sei nicht zu unterschätzen, meint auch der Istanbuler Politologe Edgar Şar am Telefon. Er forscht zu Oppositionsstrategien in autoritären Systemen: „Weltweit sind Regime wie Erdogans bis zu dem Punkt relativ stabil, in dem es eine große wirtschaftliche Krise gibt.“ Er glaubt, dass ein Regierungswechsel auch die Chancen auf eine effektive Bekämpfung der Inflation erheblich erhöht. „Wenn die Demokratie in der Türkei funktioniert, dann kommen die ausländischen Investments, die es braucht.“ Außerdem würden staatliche Mittel, die momentan in Erdogans Nepotismus fließen, anderweitig genutzt werden können, meint Şar.

Auf dem Bus steht „Ich verspreche dir, es wird wieder Frühling“. Filiz Güngör hofft, dass es so kommt.
Auf dem Bus steht „Ich verspreche dir, es wird wieder Frühling“. Filiz Güngör hofft, dass es so kommt.

© David Heerde für den Tagesspiegel

Inzwischen fährt der Shuttle auf der Autobahn, plötzlich laufen Wahlkampfsongs. Zafer, Güngör und die anderen Fahrgäste fangen an zu schnipsen, zu klatschen und mitzusingen. Die Stimmung ist ausgelassen, der Optimismus schallt durch den Kleinbus. Die Lieder handeln von Einigkeit, Menschlichkeit und dem Einsatz fürs Land. Als ein Song zu Ende geht, sagt Zafer: „Ich habe Gänsehaut.“ Obwohl sie schon seit mehr als 20 Jahren in Berlin lebt, fährt sie heute zum ersten Mal zum Wählen an die Heerstraße. Dann setzt Fahrer Yaprak zu einer kleinen Wahlkampfrede auf Türkisch an – große Zustimmung im Shuttle.  

Neben dem Fahrer sitzt Tülin Hüner, sie ist CHP-Mitglied und Wahlbeobachterin. Sie wurde in Eskişehir westlich von Ankara geboren und kam als Teenager nach Kreuzberg. Später studierte sie an der TU Berlin. Sie erhofft sich von einem Regierungswechsel, dass die Angst vor Repression einem Freiheitsgefühl weicht. Tatsächlich ist ein zentraler Programmpunkt des Oppositionsbündnisses, die Grundsätze und Verfahrensweisen der Demokratie wiederherzustellen – von Meinungsfreiheit bis zur unabhängigen Justiz.

Tülin Hüner ist Wahlbeobachterin der CHP beim Konsulat.
Tülin Hüner ist Wahlbeobachterin der CHP beim Konsulat.

© David Heerde für den Tagesspiegel

Die demokratische Erosion in den vergangenen Jahren unter Erdogan sieht Hüner als schädlich für die Türkei: „Gut ausgebildete Leute ziehen weg, weil sie keine Zukunft für ihre Kinder sehen und sie nicht in einer so undemokratischen Umgebung aufwachsen sollen.“ Doch Hüner hofft auf eine liberale Türkei: „Dass es wie in Nordeuropa wird.“ Der Weg dahin ist weit, die Türkei ist ein zerstrittenes Land. „Erdoğan hat mit viel Hass gesprochen und gespalten. Er hat die Leute sich hassen lassen, das ist nicht gut für ein Land“, sagt Güngör und fügt hinzu: „Kılıçdaroğlu wiederum hat Respekt vor allen, er sagt nicht: Du bist Alevit, du bist Muslim und du Christ.“

Gerechnet wird mit einem Kopf-an-Kopf-Rennen

Langsam fährt der Bus vorm Konsulat vor. Bis zum 9. Mai können alle, die sich registriert haben, hier noch wählen, rund 120.000 türkische Staatsbürger, die in Berlin wohnen, bekamen die Chance. Große Konflikte während des aktuellen Wahlkampfs in Berlin hat Ayşe Demir vom TBB nicht erlebt – auch nicht unter den politisch unterschiedlich eingestellten Gruppen. „Wir leben in der Stadt in einem engen Raum und müssen miteinander auskommen. Schon in den vergangenen Jahren haben sich Spannungen im Rahmen gehalten.“ Zudem werde sehr positiv von der Organisation der Wahlen im türkischen Konsulat in Charlottenburg gesprochen.

In der Türkei findet die Wahl am 14. Mai statt. Ob das Bündnis, auf das im Shuttlebus alle hoffen, gewinnen wird, ist offen. Die Umfragen weisen auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen hin. Unter den Oppositionellen ist man optimistisch – und sich vor allem in einem einig: „20 Jahre Erdoğan“, sagt Güngör und schüttelt den Kopf. „Er soll gehen, yallah!“

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