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Symbolträchtiger Auftritt: Tansu Çiller lässt im Wahlkampf 1995 Friedenstauben fliegen.

© dpa/Frm / Bearbeitung: Tagesspiegel

Die erste Frau an der Spitze der Türkei: Das Erbe der Tansu Çiller

Drei Jahre lang war sie die bisher einzige Ministerpräsidentin der Türkei. Sie weckte Erwartungen auf mehr Demokratie und Menschenrechte. Was blieb davon?

1 Hoffnung

„Çiller schreibt Geschichte“, titelte die türkische Zeitung „Milliyet“, als Tansu Çiller am 25. Juni 1993 die Vertrauensabstimmung im Parlament gewann. Und weiter: „Die Türkei hat erstmals eine Frau als Ministerpräsidentin.“ Die elegante Wirtschaftsprofessorin hatte dies weniger den türkischen Wählern zu verdanken als vielmehr der regierenden Partei des Rechten Weges, die sie zur Nachfolgerin von Süleyman Demirel bestimmte. Dieser rückte nach dem Tod von Turgut Özal ins Präsidentenamt auf.

Die damals 47-Jährige Çiller hatte in den USA studiert und promoviert, sprach fließend Englisch und verkörperte mit ihrem mittelblonden Haar und ihrem selbstsicheren Auftreten das Idealbild der modernen türkischen Frau – jedenfalls aus Sicht der säkularen Oberschicht und in der Wahrnehmung des Westens. „Die Ministerpräsidentin steht für eine neue Generation der Führung in der Türkei“, begrüßte US-Präsident Bill Clinton sie zu ihrem Antrittsbesuch in Washington. Tansu Çiller werde den Bürgern der Türkei die Erfüllung ihrer Träume ermöglichen.

2 Enttäuschung

Die Realität verlief dann anders. Unter Çiller eskalierte der Kampf der Armee gegen die kurdische Separatistengruppe PKK. Die Sicherheitskräfte erhielten freie Hand für die Verschleppung von Dissidenten und Hinrichtungen, tausende kurdische Dörfer wurden niedergebrannt und hunderttausende Menschen vertrieben

Ihr größter Erfolg war die Zollunion zwischen der Türkei und der EU, die trotz Kritik an der türkischen Menschenrechtslage 1995 beschlossen wurde. Doch es häuften sich Korruptionsskandale, die Vorwürfe reichten von der Begünstigung ihres Ehemannes bis zur Verstrickung in den Susurluk-Skandal, bei dem ein Autounfall die Verbindungen zwischen Politik, Sicherheitskräften und organisiertem Verbrechen offenbarte.

Politisch schon auf dem absteigenden Ast, ging Çiller 1996 eine Koalition mit den Islamisten von Necmettin Erbakan ein, unter dem sie Außenministerin wurde. Das politische Establishment und die Armee waren schockiert, auf ihren Druck musste die Regierung im folgenden Jahr zurücktreten.

3 Abkehr

Das Erbe von Çillers Amtszeit zeichnet die Türkei bis heute. Die kontinuierliche Landflucht der Kurden vor dem brutalen Konterterror der 1990er Jahre hat die türkischen Großstädte verändert, an deren Peripherien sich die entwurzelten Bauern damals ansiedelten. Bis heute fordern die Angehörigen von Opfern der Armeegewalt vergeblich Aufklärung über das Schicksal ihrer verschleppten Väter, Söhne und Brüder. Seit fünf Jahren werden ihre wöchentlichen Mahnwachen obendrein regelmäßig von der Polizei auseinander geprügelt

Insgesamt habe Çiller einen negativen Einfluss auf die türkische Demokratie gehabt, urteilt die türkische Politikwissenschaftlerin Ümit Cizre. In ihrem Politikmodell habe es „keine rechtlichen und moralischen Beschränkungen für die Macht eines politischen Führers“ gegeben. Tansu Çiller lebt heute zurückgezogen in einem Palais am Bosporus und erscheint nur alle fünf Jahre kurz auf der öffentlichen Bühne, um Wahlkampf für den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu machen.

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