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Eine ältere kurdische Frau wird während einer Demonstration in Diyarbakir von der Polizei festgenommen.

© IMAGO/ZUMA Wire/IMAGO/Mehmet Masum Suer

Wahl ohne Alternative: „Die Kurden wählen nur das geringere Übel“

Bei den Türkei-Wahlen spielen die Kurden eine zentrale Rolle. Ihre Stimme könnte das Schicksal des Landes verändern. Expertin Dastan Jasim spricht von „Alternativlosigkeit“.

Am 2. Mai, anderthalb Wochen vor den Türkei-Wahlen, wurde der Straßenmusiker Cihan Aymaz, der häufig im Istanbuler Stadtteil Kadiköy auftrat, Opfer eines rassistischen Mordes. Ein Passant hatte Aymaz aufgefordert, das bekannte nationalistische Lied „Ölürüm Türkiye“ (Ich sterbe für dich, Türkei) zu singen. Eine offene Provokation, da Aymaz dafür bekannt war, häufig politische kurdische Lieder zu singen.

Als er sich weigert, das Lied zu singen, zieht der Mann ein Messer und sticht auf den Sänger ein. Er stolpert, fällt rückwärts ins Wasser und stirbt. Der Sänger stammt aus der kurdischen Provinz Riha (türkisch: Urfa). Sein Vater verlor wie viele andere in der wirtschaftlich gebeutelten Region seine Arbeit und zog mit seiner Familie nach Istanbul, um etwas Geld zu verdienen.

Eine politische Realität für viele kurdische Familien in der Türkei. Neben seiner Tätigkeit als Sänger engagierte sich Aymaz ehrenamtlich für die Yeşil Sol Partisi, die pro-kurdische Oppositionspartei, die offen die wirtschaftliche und nationale Krise in der Türkei anprangert, von der seine Familie und Millionen andere betroffen sind.

Cihans Schicksal ist kein Einzelfall. Fast wöchentlich erscheinen Schlagzeilen aus verschiedenen türkischen Städten, in denen kurdische Familien auf brutalste Weise Opfer rassistischer Übergriffe werden.

19
Prozent der Gesamtbevölkerung der Türkei machen Kurdinnen und Kurden aus.

Oftmals sind es eben nicht ihre Heimatorte, in denen das passiert, sondern mehrheitlich türkische Städte, in die sie wegen der ökonomischen Misere in den besetzten kurdischen Gebieten ziehen. Eine Misere, die sich in den letzten Jahren nur noch verschlimmert, seit das ganze Land auf wirtschaftlicher Talfahrt ist.

Die marginalisierte Nation ist aber diesmal der „Kingmaker“. Auf mindestens 15 Millionen bis 25 Millionen wird die Zahl der Kurd*innen in der Türkei geschätzt, das sind 19 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die systematisch vernachlässigte und politisch verfolgte Bevölkerungsgruppe ist relevant für die Türkei, ihrer Zahl nach, aber auch inhaltlich. Das wird gerade bei diesen Wahlen deutlich.

Unerwartete Identitätspolitik der Opposition

Erdoğan tourte wiederholt durch die als religiös-konservative Zentren bekannten Provinzen mit kurdischer Bevölkerungsmehrheit und buhlte um ihre Stimmen.

Kemal Kılıçdaroğlu hingegen wirbt mit der Kritik an den dramatischen wirtschaftlichen Zuständen und dieses Jahr sogar unerwartet mit Identitätspolitik: Zwei von ihm veröffentlichte Videos mit den Titeln „Alevi“ und „Kürtler“ sorgten dabei besonders für Furore.

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Der Oppositionsführer, der selbst aus dem kurdisch-alevitischen Gebiet Nazimiye in der Provinz Dersim (türk. Tunceli) stammt, Heimatregion auch der in Paris ermordeten PKK-Mitbegründerin Sakine Cansız, thematisiert erstmals offen seine Zugehörigkeit zur religiösen Minderheit der Aleviten.

Er prangert in seinen Videos Diskriminierung und Rassismus an, aber auch die Kriminalisierung von Kurd*innen. Ein Mann, der wie viele andere nach dem Gründer der türkischen Republik Kemal Atatürk benannt wurde, macht, wie es scheint, eine 180-Grad-Wende.

Demirtaş ruft zur Unterstützung der Kurden auf

Seine Geste wird von vielen Kurd*innen positiv aufgenommen. Die Yeşil Sol Partisi ruft dazu auf, ihm die Stimme für die Präsidentschaft zu geben, und verzichtete darauf, einen eigenen Kandidaten aufzustellen. Sogar der inhaftierte ehemalige HDP-Ko-Vorsitzende Selahattin Demirtaş teilt das Konterfei von Kılıçdaroğlu und erklärte per Twitter, dass seine Stimme dem Oppositionsführer gilt.

Die kurdische Yeşil Sol Partisi ist von der horrenden Alternativlosigkeit getrieben. 

Dastan Jasim, Politikwissenschaftlerin

Demirtaş setzt sogar darauf, dass Kılıçdaroğlu die Spaltung in der Türkei beenden könnte. So werden am Sonntag viele Kurd*innen ihr Kreuz wohl unter die prokurdische Partei Yeşil Sol und außerdem unter den Namen des Kandidaten Kılıçdaroğlu setzen.

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Das ist von hohem symbolischem Wert, doch dahinter steckt, dass die Yeşil Sol Partisi von der horrenden Alternativlosigkeit getrieben ist. Gespräche mit Kurd*innen im Land zeugen von dieser Verzweiflung.

Kılıçdaroğlu unterstützte völkerrechtswidrige Militäroperationen

Viele erhoffen sich von einem Gewinn Kılıçdaroğlus höchstens ein Paar Jahre des Durchatmens, weniger Verhaftungen, vielleicht ökonomische Erholung und vor allem ein Ende der permanenten militärischen Attacken im türkisch, syrisch und irakisch besetzten Kurdistan. Ihre Skepsis ist verständlich. Es war die CHP, die Partei Kılıçdaroğlus, die immer wieder völkerrechtswidrigen Militäroperationen in Kurdistan zugestimmt hat.

Im Land muss sich jene ideologische Basis fundamental ändern, die rechtsnationalistische Morde erst möglich macht.

Dastan Jasim, Politikwissenschaftlerin

Zudem gab es einen ähnlichen Präzedenzfall: 2019 rief die pro-kurdische Opposition nämlich dazu auf den CHP-Kandidaten Ekrem Imamoğlu, der vielseits als Reformer und Progressiver gelobt wurde, zum Bürgermeister Istanbuls zu wählen. Es gelang ihm, denn tausende kurdische Stimmen halfen ihm zu diesem strategisch wichtigen Sieg gegen die AKP.

Den Kurd*innen brachte das jedoch am Ende nichts: Im Oktober 2019 stimmte die CHP für die Militäroffensive in Rojava, den Kurdengebieten in Nordsyrien. Derselbe Imamoğlu, für den sie gestimmt hatten, frohlockte auf Twitter über die vermeintliche Verteidigung des Vaterlandes.

Für viele Kurd*innen und alle weiteren Bevölkerungsgruppen, die in den nationalistischen Gründungsmythos der Türkei als Staat eines einheitlichen Volks nicht passen, gibt es in dieser Wahl wie in vielen vorherigen keine echte Alternative. Für sie geht es um das geringere Übel.

Das wird sich erst ändern, wenn sich im Land jene ideologische Basis fundamental ändert, die rechtsnationalistische Morde wie den an Cihan Aymaz erst möglich macht.

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