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Land unter. Tausende Menschen müssen in Sicherheit gebracht werden.

© dpa/Evgeniy Maloletka

Nach dem Dammbruch des Kachowka-Staudamms: „Eine ständige Gefahr für Leib und Leben“

Präsident Selenskyj kritisiert nach der Zerstörung der Talsperre im Osten der Ukraine die internationale Unterstützung. Hilfsorganisationen verweisen dagegen auf die extremen Anforderungen im Kriegsgebiet.

Wasser, Wasser, Wasser. So weit das Auge reicht. Drei Tage nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms sind weite Teile der Region überschwemmt – und das Ausmaß der Katastrophe noch nicht absehbar. Klar ist aber: Die Menschen brauchen dringend Hilfe. Das beginnt schon, wenn sie ihre Wohnungen und Häuser verlassen müssen.

„Habt ihr jemanden, der weg möchte?“, fragt Andrey Petukhov von seinem Motorboot aus, während er durch das überschwemmte Cherson fährt. Einige steigen zu, andere versorgt er mit dem Nötigsten. Sie hoffen, dass die Flut bald zurückgehen wird.

Wenig später zeigen Videoaufnahmen auf dem Instagram-Account des Ersthelfers einen blutüberströmten älteren Herren, der bei der Evakuierung unter russischen Beschuss geriet. „Scheiße, er wurde am Kopf getroffen“, flucht Petukhov, während er versucht, den Mann notdürftig zu versorgen.

Am Donnerstagmorgen ist der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in die betroffene Region Cherson gereist und versprach Hilfe. Mehr als 6000 Menschen sind laut Regierungsangaben bereits in Sicherheit gebracht worden, Tausende mehr könnten noch folgen.


Wie ist die Lage im Überschwemmungsgebiet?

Das ukrainische Innenministerium spricht von rund 2000 Einwohnern, die auf der von Ukraine gehaltenen westlichen Seite des Dnipro in Sicherheit gebracht wurden, Stand Mittwochnachmittag.

Nach Angaben der von Moskau eingesetzten Behörden auf der Ostseite des Flusses mussten dort 4000 Menschen ihre Häuser verlassen.

42.000 Anwohnerinnen und Anwohner sind vom Hochwasser betroffen oder bedroht. Das Überschwemmungsgebiet ist laut ukrainischer Darstellung schon jetzt 600 Quadratkilometer groß.

Jeder tote Mensch ist ein Urteil für die bestehende internationale Architektur, für internationale Organisationen, die vergessen haben, wie man Leben rettet.

Wolodymyr Selenskyj, der ukrainische Präsident kritisiert in seiner Videoansprache die Vereinten Nationen und internationale Hilfsorganisationen

Aus dem Stausee hinter dem zertrümmerten Damm ergießen sich jedoch weiter ungehindert riesige Wassermassen über das Land.

Das Wasser des Staudamms hat weite Teile der Region überflutet.

© dpa/Libkos

Bedroht ist auch die Tier- und Pflanzenwelt. Die Ukrainian Nature Conversation Group geht davon aus, dass die örtliche Fauna auf einer Fläche von mindestens 5000 Quadratkilometern betroffen ist. Die Umweltschutz-Organisation schätzt, dass es allein bei den Fischen „mindestens sieben bis zehn Jahre“ dauern werde, bis sich die Bestände erholten.

Zudem werde die Pflanzenwelt oberhalb des Staudamms ausdörren und absterben, während die flussabwärts gelegenen Wald- und Steppengebiete mit Wassermassen rechnen müssten – auch das ein ökologisches Desaster. Selenskyj spricht sogar von einer „Massenvernichtungs-Umweltbombe“.


Was benötigen die Menschen im Katastrophengebiet?

Ein besonders großes Problem ist die Versorgung der Menschen mit Trinkwasser. Der Staudamm diente örtlichen Angaben zufolge mehr als 700.000 Menschen als Reservoir; in fast alle Regionen der südlichen Landesteile wurde Wasser geleitet.

Doch Pumpen, Leitungen und Entnahmestellen sind zerstört oder funktionieren nicht mehr – der Zugang zu sauberem Wasser ist damit für die verbliebenen Bewohner der überschwemmten Gebiete oft unmöglich.

25.000
Wasserflaschen und 10.000 Wasserreinigungstabletten will das UN-Kinderhilfswerk Unicef bereitstellen.

Zudem sind nach ukrainischen Angaben 150 Tonnen Maschinenöl in den Dnipro gelangt. Auch könnten sich Chemikalien, gefährliche Keime und Müll in Brunnen und Gewässern verteilen. Damit drohten Seuchen und Infektionskrankheiten.

Nicht zuletzt deshalb hat der Katastrophenschutz in Kiew die Staatengemeinschaft und Hilfsorganisationen um Wasseraufbereitungs- und Filteranlagen gebeten. 5000 sogenannte Family Drip Filter will zum Beispiel das Technische Hilfswerk liefern, die jeweils eine Familie mit sauberem Wasser versorgen kann.

Unterstützung kommt auch von Unicef. Das UN-Kinderhilfswerk hat eigenen Angaben zufolge 25.000 Wasserflaschen und 10.000 Wasserreinigungstabletten bereitgestellt.

Tausende sind auf Nothilfe angewiesen.

© obs/Johanniter

Bereits kurz nach der Zerstörung des Staudamms hat das Deutsche Rote Kreuz (DRK) begonnen, mehr als 1900 Menschen in Sicherheit zu bringen, verschiedene Notfallteams und über 50 freiwillige Helfer sind rund um die Uhr im Einsatz.

Drei Bereiche stehen für die ukrainischen Partnerorganisationen des DRK bei der Soforthilfe im Vordergrund: die Trink- und Gebrauchswasserversorgung, die Evakuierung aus den überfluteten Gebieten und die Aufklärung über Gesundheitsrisiken.

Zusätzlich konzentriert sich die Hilfsorganisation auf „die Evakuierungen von mobilitätseingeschränkten Menschen und ihre sichere Unterbringung“, sagt Rebecca Winkels im Gespräch mit dem Tagesspiegel.

700.000
Menschen dient der Staudamm lokalen Angaben zufolge als Reservoir.

Ein weiteres Problem: Viele der Betroffenen sind Nichtschwimmer, neben Hilfsgütern des täglichen Lebens verteilen die Johanniter eigenen Angaben zufolge verstärkt Schwimmwesten und Boote.


Welche Probleme gibt es bei der Hilfe?

Selenskyj wirft den Vereinten Nationen und internationalen Hilfsorganisationen vor, sie würden nicht schnell genug Unterstützung leisten. „Jeder tote Mensch ist ein Urteil für die bestehende internationale Architektur, für internationale Organisationen, die vergessen haben, wie man Leben rettet“, sagte er am Mittwochabend in seiner täglichen Videoansprache.

Helfer reagieren auf derartige Anschuldigungen mit dem Hinweis, dass der Einsatz unter Kriegsbedingungen wie in der Ukraine eine besondere Herausforderung bedeutet.

Gespräch mit dem Präsidenten. Wolodymyr Selenskyj besucht am Donnerstag eines der Krankenhäuser im Katastrophengebiet.

© dpa/Uncredited

Ein besonderes Problem sehen Experten zum Beispiel in den durch die Fluten weggeschwemmten Landminen. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges haben Menschenrechtsorganisationen den großflächigen Einsatz sogenannter Anti-Personenminen immer wieder scharf verurteilt.

Ukrainischen Angaben zufolge ist im Land ein Gebiet von der doppelten Fläche Österreichs mit Sprengfallen und Minen verseucht – auch in der Nähe des Kachowka-Staudamms.

In Cherson kommt es weiterhin täglich zu Bombardierungen und Artilleriebeschuss durch die russische Armee. Es besteht eine ständige Gefahr für Leib und Leben.

Florian Beck, Johanniter-Programmreferent für die Ukraine

Durch die Überschwemmungen sind die Landminen nun aber nicht mehr genau lokalisierbar. „Wir wussten, wo die Gefahren waren“, sagt Erik Tollefsen vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz der Nachrichtenagentur Reuters. „Nun wissen wir es nicht mehr. Alles, was wir wissen, ist, dass sie irgendwo flussabwärts sind.“

Auch das Deutsche Rote Kreuz sieht in der großflächigen Verminung des Katastrophengebiets eine „massive Herausforderung“. Die Freisetzung der explosiven Kampfmittel gefährde Tausende von Zivilisten im Überschwemmungsgebiet. Zugleich werde der Zugang zu Betroffenen erschwert.

In den kommenden Tagen erwartet Rebecca Winkels weitere „Schäden an der Versorgungsinfrastruktur“. Dies würde Hilfe zusätzlich erschweren und die Versorgungslage weiter verschlimmern. Katastrophenereignisse in einem Kriegsgebiet stellen Helfende grundsätzlich vor „manchmal unüberwindliche sicherheitsrelevante Herausforderungen“.

Das sehen auch die Johanniter so. „In Cherson kommt es weiterhin täglich zu Bombardierungen und Artilleriebeschuss durch die russische Armee. Es besteht daher eine ständige Gefahr für Leib und Leben sowohl der Helfenden als auch der Bevölkerung“, sagt Florian Beck, Johanniter-Programmreferent für die Ukraine.

Auch die Lieferung von Hilfsgütern werde dadurch massiv erschwert. „Es braucht zu jedem Zeitpunkt eine aktuelle Risikoanalyse, Routen und Zeitpläne müssen angepasst werden.“

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