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Am Sonntag kommt es in der Türkei zur Stichwahl zwischen Erdogan und Kilicdaroglu.

© picture alliance / AA/Evrim Aydin

Sonntag der Entscheidung: Das müssen Sie zur Stichwahl in der Türkei wissen

Erdoğan gegen Kılıçdaroğlu: Zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei gibt es eine Stichwahl um das Amt des Präsidenten. Wir beantworten die wichtigsten Fragen dazu.

Recep Tayyip Erdoğan plant schon seine Siegesfeier. Einen Tag nach der Stichwahl um das türkische Präsidentenamt an diesem Sonntag will der 69-jährige das Morgengebet in der Hagia Sophia in Istanbul verrichten und dann den Jahrestag der Eroberung von Konstantinopel durch die Osmanen vor 570 Jahren feiern.

Auch Erdoğans erste Auslandsreisen nach der Wahl – nach Aserbaidschan und in den türkischen Teil von Zypern – werden schon vorbereitet, denn der seit 20 Jahren regierende Präsident ist sicher, dass er das Rennen gegen seinen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu gewinnen wird. Hier die wichtigsten Fragen und Antworten zur Stichwahl.

Erdoğan verfehlte in der ersten Wahlrunde am 14. Mai den Sieg, weil er mit 49,5 Prozent der Stimmen knapp unter der Marke von 50 Prozent blieb, die er für einen Erfolg im ersten Durchgang überwinden musste. In der Stichwahl reicht eine einfache Mehrheit.

Wer hat die besseren Chancen?

Kılıçdaroğlu kam auf fast 45 Prozent und der Rechtsnationalist Sinan Ogan als dritter Kandidat auf 5,2 Prozent. Deshalb stehen sich nun Erdoğan und Kılıçdaroğlu in der ersten Stichwahl um das Präsidentenamt in der Geschichte der Türkischen Republik gegenüber.

Rund 64 Millionen Türken sind wahlberechtigt. Drei Millionen Auslandswähler konnten vom 21. bis zum 24. Mai schon abstimmen; fast 1,9 Millionen Auslandstürken gaben in diesen fünf Tagen ihre Stimme ab, mehr als in der ersten Runde am 14. Mai.

Im ersten Durchgang hatten die Auslandswähler mit einer Mehrheit von 57 Prozent für Erdoğan votiert. In Deutschland, der Heimat der größten türkischen Minderheit im Ausland, erhielt Erdoğan sogar 65,5 Prozent.

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Obwohl Erdoğan am 14. Mai rund drei Prozentpunkte unter seinem Ergebnis bei der letzten Wahl im Jahr 2018 blieb und zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt als Staatschef im Jahr 2014 einen Sieg im ersten Durchgang der Präsidentenwahl verpasste, spricht am Sonntag vieles für ihn.

Er erhielt in der ersten Runde zweieinhalb Millionen Stimmen mehr als Kılıçdaroğlu, obwohl dieser mit der Unterstützung eines breiten Oppositionsbündnisses angetreten war. Kılıçdaroğlu und seine Unterstützer hatten alles auf einen Sieg in der ersten Runde gesetzt und waren vom Ergebnis enttäuscht. Zudem kontrolliert Erdoğan die meisten Medien, die ausführlich über ihn, aber kaum über Kılıçdaroğlu berichten.

Kılıçdaroğlu wird es deshalb schwer haben, seine Wähler am Sonntag noch einmal zu motivieren. Chancenlos ist er aber nicht. Kurz vor dem Wahltag erhielt er die Unterstützung von Ümit Özdag, dem Chef der rechtsgerichteten Sieges-Partei, die am 14. Mai auf rund 1,2 Millionen Stimmen gekommen war. Allerdings entschied sich Sinan Oğan, der als Präsidentschaftskandidat der Sieges-Partei auf dem dritten Platz gelandet war, für Erdoğan.

Der Präsident hofft auf ein besseres Ergebnis als 2018, als er 52,6 Prozent erhielt. Umfragen kurz vor dem Wahltag sahen Erdoğan bei rund 53 Prozent, verzeichneten aber auch noch bis zu zwölf Prozent unentschiedene Wähler. Zudem sind Umfragen in der Türkei nicht immer verlässlich: Vor der ersten Runde am 14. Mai hatten die meisten Demoskopen einen Sieg von Kılıçdaroğlu vorausgesagt.

Was waren die wichtigsten Themen im Wahlkampf?

Weil sowohl Erdoğan als auch Kılıçdaroğlu um die nationalistischen Wähler von Oğan und Özdag werben, drehte sich der Wahlkampf vor der Stichwahl um die Themen der Rechten: die Flüchtlings- und die Kurdenpolitik. Erdoğan sagte Oğan zu, er werde eine Million syrische Flüchtlinge in neu errichteten Siedlungen im Norden Syriens unterbringen.

Kılıçdaroğlu ging in seinen Zusagen an Özdag noch weiter: Er kündigte an, alle Flüchtlinge innerhalb eines Jahres aus der Türkei nach Hause zu schicken. Außerdem versprach er Özdag, er werde Erdogans Politik fortsetzen, kurdische Bürgermeister abzusetzen und ihre Kommunen unter staatliche Zwangsverwaltung zu stellen, wenn den Lokalpolitikern eine Nähe zur Terrororganisation PKK gerichtlich nachgewiesen werde.

Kılıçdaroğlu lehnt mehr lokale Selbstverwaltung ab – auch das richtet sich gegen die Kurden. Die pro-kurdische Partei YSP reagierte entsetzt, blieb aber bei ihrer Unterstützung für Kılıçdaroğlu, weil für sie die Ablösung von Erdoğans noch wichtiger ist.

Was versprechen die Kandidaten noch?

Erdoğan empfiehlt sich als Präsident, der das Land zu neuer Größe und einem „Jahrhundert der Türkei“ führen will. Er verweist auch auf das Parlament, wo sein Regierungsbündnis bei der Wahl am 14. Mai trotz einiger Verluste seine Mehrheit verteidigen konnte.

0,5
Prozentpunkte fehlten Erdogan, um im ersten Wahlgang zu siegen

Zusammen mit der Parlamentsmehrheit könne er harmonisch regieren, sagt Erdoğan, doch mit Kılıçdaroğlu als Präsident würden sich Staatsspitze und Parlament gegenseitig blockieren. Kılıçdaroğlu verspricht eine Abschaffung von Erdogans Präsidialsystem und eine Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie. Außerdem will er die Grundrechte stärken und die Türkei wieder auf Europa-Kurs bringen.

Wie geht es nach dem Wahltag weiter?

Anders als im ersten Durchgang am 14. Mai, als die Wahlkommission wegen der Doppelwahl für Präsident und Parlament erst am nächsten Tag vorläufige Endergebnisse verkündete, könnte der Sieger am Sonntag schon wenige Stunden nach Schließung der Wahllokale um 16 Uhr MESZ feststehen. Bei einem knappen Wahlausgang könnte es jedoch Verzögerungen geben, wenn manche Bezirke neu ausgezählt werden.

Steht das Ergebnis einmal fest, beginnt der Sieger mit der Vorbereitung auf die nächsten fünf Jahre. Im Jahr 2018 lagen 15 Tage zwischen der Wahl und Erdoğans Amtseid im Parlament. Damals stellte Erdoğan auch gleich sein neues Kabinett vor.

Was ist politisch nach der Wahl zu erwarten?

Unabhängig vom Ergebnis am Sonntag dürfte sich wegen des gewachsenen Einflusses der Nationalisten der Druck auf Flüchtlinge und Kurden in der Türkei verstärken. Auch Frauen könnten zu den Wahlverlierern gehören: Zwei islamistische Parteien in Erdoğans Regierungsbündnis im Parlament wollen Frauenrechte abbauen.

Manche Experten erwarten zudem, dass die Wirtschaft noch tiefer in die Krise schlittert und Hilfskredite von Geldgebern wie den arabischen Staaten oder dem Internationalen Währungsfonds nötig werden. Wenn sich die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen weiter verschlechtern, könnte dies eine Massenabwanderung besonders junger und gut ausgebildeter Türken auslösen, die in ihrem Land keine Zukunft mehr sehen.

Das türkische Flüchtlingsproblem könne nach der Wahl „sehr schnell ein europäisches Problem werden“, sagt Marc Pierini, ein früherer EU-Botschafter in Ankara, der jetzt bei der Denkfabrik Carnegie Europe arbeitet. Erdoğan hatte schon 2020 versucht, die EU unter Druck zu setzen, indem er Flüchtlinge an die Landgrenze mit Griechenland schickte. Kılıçdaroğlu will den Flüchtlingspakt mit der EU aus dem Jahr 2016 auf den Prüfstand stellen.

Sollte Erdoğan im Präsidentenpalast bleiben, rechne in der EU niemand mit einer grundlegenden Verbesserung der Beziehungen, sagte Pierini in einer Online-Diskussion der Nachrichtenplattform Al Monitor. Neue Spannungen wegen des türkischen Dauerstreits mit Griechenland seien möglich.

Wenn Kılıçdaroğlu siege, werde sich auch nicht alles über Nacht ändern, meint der frühere Botschafter: Zumindest gäbe es in diesem Fall aber „die Chance für einen Dialog“.

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