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Kemal Kilicdaroglu hat viele mit seinen harschen Aussagen zu Flüchtlingen überrascht.

© REUTERS/CAGLA GURDOGAN

Wahlkampf gegen Geflüchtete: Hat der Westen sich in Kilicdaroglu geirrt?

Der türkische Präsidentschaftskandidat gibt sich demokratisch – und will Geflüchtete nach Syrien zurückschicken. Was ist von seinen Äußerungen zu halten?

Ein Gastbeitrag von Cigdem Toprak

Das Video hat es in sich. „Die Grenze ist unsere Ehre“, sagt der Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu in einem Statement, das am Mittwoch veröffentlicht wurde. „Wir werden unser Heimatland nicht dieser Mentalität überlassen, die heute zehn Millionen Flüchtlinge unkontrolliert zu uns gebracht haben.“  Wenn er an die Regierung komme, „werde ich alle Flüchtlinge nach Hause schicken“, unterstrich Kilicdaroglu einen Tag später. Der AKP-Regierung warf er vor, dies einfach zuzulassen und keinen Finger zu rühren.

Mit dieser Rhetorik, die man in Deutschland von der AfD kennt, hat der Präsidentschaftskandidat Kılıçdaroğlu, der am 28. Mai in die Stichwahl gegen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan geht, viele überrascht.

Nachdem er vor dem ersten Wahlgang am vergangenen Sonntag mit Herzsymbolen für eine demokratische und friedliche Türkei geworben hatte, wendet sich der Kandidat der sozialdemokratischen CHP nun mit harten Worten gegen Geflüchtete. Viele im Westen fragen sich: Könnte Kılıçdaroğlu uns genauso enttäuschen, wie Erdoğan, als er 2002 für eine demokratische und liberale Türkei plädierte?  

Jede Stimme für die Stichwahl zählt

Damit will der Herausforderer Wählerstimmen für sein Bündnis in der zweiten Wahlrunde der Präsidentschaftswahlen gegen Erdoğan ergattern. Aber wie ernst meint er es? Rückt Kilicdaroglu nun nach rechts?

Wir sind nicht überrascht. Das haben wir erwartet. Er ist sogar spät dran.

Ruşen Çakır, Journalist, über den nationalistischen Schwenk in der Kampagne des Herausforderers

Bisher war es eine „positive Kampagne“, wie der türkische Journalist Ruşen Çakır dessen Wahlstrategie bezeichnet. Der Gegenspieler von Erdogan habe auf eine ruhige und gelassene Rhetorik gesetzt.

Vor der Stichwahl verfolge er nun aber eine klare Taktik und nehme seinen Konkurrenten direkt ins Visier. „Wir sind nicht überrascht. Das haben wir erwartet. Er ist sogar spät dran“, sagt Çakır auf der Youtube-Platform „Medyascope“.  

„Das eigentliche Ziel ist, die fünf Prozent der Stimmen, die an den Ultranationalen Sinan Oğan gingen, zu bekommen“, sagt Çakır.  Auch dieser stellt sich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen, die Erdogan im Gegenzug für Gelder von der EU praktiziert hat.

Die Forderung Kılıçdaroğlus, dass syrische Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren sollen, ist nicht neu. Sie ist eines seiner Wahlversprechen.  Neu ist die Härte, mit der er sie vorträgt.

Was soll aus ihnen werden? Syrische Geflüchtete im Lager Nizip in der Provinz Gaziantep an der türkisch-syrischen Grenze .

© REUTERS/Umit Bektas

Im vergangenen Jahr machte er in seinem Vier-Punkte-Plan für die freiwillige Rückführung der syrischen Geflüchteten klar, dass er es als Risiko ansieht, wenn die Geflüchteten in der Türkei bleiben sollten. Oder wenn noch Menschen in der Türkei Zuflucht suchen sollten. Die türkische Gesellschaft könne das nicht verkraften.

Sie haben geschwiegen, während sich die Menschen gegenseitig umgebracht haben.

Kemal Kılıçdaroğlu zur europäischen Politik im syrischen Bürgerkrieg

Daher dürfte die Flüchtlingspolitik Kılıçdaroğlus auch für die europäischen Politiker nicht überraschend sein. Zudem der Oppositionspolitiker die Untätigkeit der EU mitverantwortlich für die Folgen des Bürgerkriegs in Syrien macht: Nach einer Europareise hatte er 2021 erklärt: „Sie haben geschwiegen, während sich die Menschen gegenseitig umgebracht haben, während in Syrien Blut über Leichen geflossen ist.“

Gegen Verletzung der Menschenrechte

Auch wenn der Sozialdemokrat über die Rückkehr der Geflüchteten mit Syrien, den UN und der EU verhandeln will, wird er die Verletzung der Menschenrechte der Geflüchteten sicher nicht in Kauf nehmen. Denn im Falle seines Wahlsiegs würde der Westen den Repräsentanten einer anderen Türkei kennenlernen.

Zwar ist er auch – wie Erdogan – ein Aufsteiger. Geboren 1948 in Dersim, einer mehrheitlich alevitischen Region, die Zazaki spricht, wuchs er als Sohn einer Analphabetin und eines Beamten-Vaters in prekären Verhältnissen auf. Anschließend machte er Karriere im Staatsdienst, 1991 wurde er Generaldirektor der türkischen Sozialversicherung.

2010 wurde er Parteivorsitzender der einst von Staatsgründer Atatürk gegründeten CHP – als erster Alevit. Und begann die Partei zu verändern. „Er beseitigte die ultranationalistischen Falken und begann, den Ausdruck „die neue CHP“ zu verwenden“, schreibt der Schriftsteller Kaya Genç in einem Aufsatz für die London Review of Books.

„Er erkannte die Geschichte der Unterdrückung von Kurden, Frauen mit Kopftüchern und des Islam im Allgemeinen an.“ Der Stimmenanteil der CHP stieg daraufhin von 21 Prozent im Jahr 2007 auf 26 Prozent im Jahr 2011.  

Der Marsch für Gerechtigkeit

Eindruck machte Kilicdaroglu bei der Opposition 2017 mit seinem „Gerechtigkeitsmarsch“. Als ein CHP-Abgeordneter verhaftet wurde, lief Kilicdaroglu aus Protest die 450 Kilometer von Ankara nach Istanbul zu Fuß, in drei Wochen, und hatte nur eine Botschaft: „Gerechtigkeit.“  So hat sich Kılıçdaroğlu langsam einen Ruf als echter Demokrat erarbeitet.

Und für die Opposition geht es in diesem Wahlkampf um alles. Es geht um die Demokratie. „Ich bin ein Sozialdemokrat“, beteuert Kılıçdaroğlu.

So kritisierte Kılıçdaroğlu in dem Video mit den Äußerungen zu Flüchtlingen gleichzeitig den Einzug ins Parlament der kurdisch-islamistischen Hüda Pa – Partei: Sie trete die Frauenrechte mit Füßen. Die Gruppierung war in den 90er Jahren für brutale Morde an türkischen Dissidenten verantwortlich.

Auch wenn die neue Wahlstrategie Kılıçdaroğlus nach einem Rechtsruck, nach gefährlichem Nationalismus und Xenophobie klingt: Eine patriotische Sprache und der Appell an nationalistische Gefühle ist aus Sicht des Herausforderers notwendig, um weitere Wählerstimmen zu gewinnen.

„Wer sein Vaterland liebt, soll zu der Wahlurne kommen“, schreibt Kılıçdaroğlu denn auch am Freitag auf Instagram. Doch der Herausfordererer hat seit Jahren bewiesen, dass gilt, was er am Wahltag sagte: „Wir haben die Demokratie vermisst.“    

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