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Foto des inhaftierten Selahattin Demirtas in der Hand einer Anhängerin im April 2018

© Getty Images/Chris McGrath

Königsmacher aus dem Knast?: Der Kurdenpolitiker Demirtas könnte die Türkei-Wahl entscheiden

Aus dem Gefängnis ruft der prokurdische Politiker Selahattin Demirtas zur Wahl des Präsidentschaftskandidaten Kilicdaroglu auf. Sein Appell könnte Erdogan zu Fall bringen am 14. Mai.

Selahattin Demirtas ist seit mehr als sechs Jahren nicht mehr öffentlich aufgetreten. Auch vor der Präsidentschafts- und Parlamentswahl am Sonntag kann der türkische Kurdenpolitiker keine Kundgebungen veranstalten, um zu seinen Wählern zu sprechen, denn er sitzt im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne an der bulgarischen Grenze.

Und doch könnte der 50-jährige Demirtas am Sonntag zum Königsmacher werden. Aus seiner Zelle heraus ruft er die Kurden auf, trotz Bauchschmerzen den Oppositionskandidaten Kemal Kilicdaroglu zu wählen, um Präsident Recep Tayyip Erdogan zu entmachten.

Den Umfragen zufolge könnten Demirtas‘ Appelle wahlentscheidend sein.

10
Prozent der türkischen Wähler sind Kurdinnen und Kurden.

Seit Herbst 2016 sitzt Demirtas hinter Gittern. Die Justiz wirft ihm vor, im Jahr 2014 regierungsfeindliche Proteste provoziert zu haben, bei denen mehr als 50 Menschen starben. Erdogan nennt ihn einen „Terroristen“.

Bestraft für seinen Kampf gegen Erdogans Autokratie

Der wahre Grund für Demirtas‘ Haft ist nach Auffassung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes in Straßburg, dass die Erdogan-Regierung den Kurdenpolitiker mundtot machen will.

Demirtas hatte die Kurdenpartei HDP für linksliberale Wähler aus der ganzen Türkei geöffnet und so zur drittstärksten politischen Kraft des Landes gemacht. An der Spitze der HDP kämpfte der Anwalt aus der ostanatolischen Provinz Elazig gegen Erdogans Pläne zur Einführung eines Präsidialsystems.

Demirtas sei ins Gefängnis gesteckt worden, „um den Pluralismus zu beschneiden und die Freiheit der politischen Debatte zu begrenzen“, urteilte das Straßburger Gericht im Dezember 2020 und forderte die sofortige Entlassung des Politikers.

Beendet die Finsternis gleich in der ersten Runde.

Selahattin Demirtas auf Twitter zu Eahl am 14. Mai

Als Mitglied des Europarates muss sich die Türkei an die Urteile aus Straßburg halten, doch Erdogan weigert sich, Demirtas freizulassen. Im Europarat läuft deshalb – und wegen des ähnlichen Falls des Bürgerrechtlers Osman Kavala – ein Ausschlussverfahren gegen Ankara.

Aus dem Gefängnis in Edirne heraus nimmt Demirtas weiter an der politischen Debatte teil. Er kennt die Vorbehalte vieler Kurden gegen das Oppositionsbündnis von Kilicdaroglu.

Unterstützer von Kemal Kilicdaroglu nutzen das Herz als Zeichen – werden sich die Kurdinnen und Kurden ihnen anschließen?
Unterstützer von Kemal Kilicdaroglu nutzen das Herz als Zeichen – werden sich die Kurdinnen und Kurden ihnen anschließen?

© Reuters/Alp Eren Kaya/CHP

Zu der Allianz gehört die rechtskonservative IYI-Partei der früheren Innenministerin Meral Aksener, in deren Amtszeit in den 1990er Jahren viele kurdische Aktivisten mit Folter und außergerichtlichen Hinrichtungen getötet wurden. Aksener lehnt bis heute jede Zusammenarbeit mit den Kurden ab.

Nicht für die Opposition, sondern gegen Erdogan

Kilicdaroglu ist mitverantwortlich dafür, dass Demirtas im Gefängnis sitzt: Kilicdaroglus Partei CHP stimmte 2016 für ein Gesetz, mit dem Demirtas und anderen Kurdenpolitikern die parlamentarische Immunität entzogen wurde.

Doch aus Sicht von Demirtas sollten die Kurden am Sonntag trotzdem für Kilicdaroglu stimmen. „Beendet die Finsternis gleich in der ersten Runde“, schrieb er an seine 2,5 Millionen Abonnenten auf Twitter: Wenn Kilicdaroglu am Sonntag mehr als 50 Prozent der Stimmen erhält, ist die Ära Erdogan vorbei. Schafft er es nicht, gibt es am 28. Mai eine Stichwahl.

Kilicdaroglu liegt nach den Umfragen vor Erdogan und hat eine Chance auf einen Sieg im ersten Wahlgang. Doch dazu braucht Kilicdaroglu unbedingt die Kurden, die rund zehn Prozent der türkischen Wähler ausmachen.

Kemal Kilicdaroglu hat gute Chancen Erdogan zu besiegen und neuer Präsident der Türkei zu werden.
Kemal Kilicdaroglu hat gute Chancen Erdogan zu besiegen und neuer Präsident der Türkei zu werden.

© Reuters/Murad Sezer

Demirtas‘ Aufruf für die Opposition könnte den Durchbruch bringen – wie schon bei den Kommunalwahlen 2019. Damals verzichtete die HDP darauf, in Städten wie Istanbul und Ankara eigene Bürgermeisterkandidaten ins Rennen zu schicken und unterstützte das Oppositionsbündnis von Kilicdaroglu und Aksener.

Bei den Wahlen beendete die Opposition dank der Kurden die Herrschaft von Erdogans Partei AKP in den größten Städten des Landes. Nun will die Opposition dieses Modell auf Landesebene anwenden: Die HDP geht ohne eigenen Kandidaten in die Präsidentschaftswahl.

Auch für Demirtas persönlich hängt viel von der Wahl ab: Kilicdaroglu hat versprochen, als Präsident werde er Demirtas und Kavala freilassen, wie vom Straßburger Europagericht verlangt. Wenn Erdogan die Wahl gewinnt, bleibt Demirtas möglicherweise lebenslang hinter Gittern.

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