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Ein Wahlkampfzelt für Recep Tayyip Erdogan

© dpa/Murat Kocabas

Bei einer Niederlage Erdoğans: Europa ist auf einen Machtwechsel in der Türkei nicht vorbereitet

Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu will im Falle eines Wahlsiegs auf Europa zugehen. Doch die EU ist beim Umgang mit der Türkei zerstritten. Dabei braucht sie das Land mehr denn je.

Ein Gastbeitrag von Henrik Meyer

 
Wenige Tage vor der wichtigsten Wahl des Jahres liegt etwas in der Luft. Nach 20 Jahren an der Macht muss Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan um seine Wiederwahl bangen.

Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu liegt in den Umfragen der meisten Wahlforschungsinstitute vorn – teils so deutlich, dass sogar ein Sieg bereits im ersten Wahlgang am 14. Mai möglich scheint.

Umfragen in der Türkei sind chronisch unzuverlässig und niemand sollte den Fehler machen, Erdoğan zu früh abzuschreiben. Aber dennoch: Diplomatische Drähte verzeichneten jüngst aufgeregte Aktivität, denn ein Sieg der Opposition hätte unweigerlich eine Neujustierung der europäisch-türkischen Beziehung zur Folge.

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Die religiös-kulturelle Ablehnung bleibt

Doch so sehr sich viele in Europa einen Wechsel in der Türkei herbeisehnen, so unklar ist, inwieweit die EU überhaupt in der Lage wäre, sich in den Kernfragen der Ausgestaltung der europäisch-türkischen Beziehungen zu bewegen.

Die Haltung der EU zur Türkei war bereits vor der Ära Erdoğan ambivalent. Sie besteht einerseits aus der grundsätzlichen Einsicht in das Interesse der Einbindung; andererseits sind da sie Sorge vor einer Überforderung des Bündnisses, Misstrauen und teils religiös-kulturelle Ablehnung.

Aussichtsreicher Kandidat der türkischen Opposition: Kemal Kılıçdaroğlu (Mitte) auf einem Wahlplakat.
Aussichtsreicher Kandidat der türkischen Opposition: Kemal Kılıçdaroğlu (Mitte) auf einem Wahlplakat.

© dpa/Tolga Ildun

Mit dem Autokraten Erdoğan an der Spitze der Regierung fiel die Antwort auf diesen Widerspruch leicht, denn niemand erwartete substanzielle Fortschritte. Brüssel verlieh der Türkei den inoffiziellen Status der ewigen Beitrittskandidatin. Berlin und andere verweisen auf eine mehr schlecht als recht funktionierende Zollunion als Hindernis auf dem Weg zur Visaliberalisierung.

Die Entfremdung ist groß

Und Athen konnte unter Verweis auf Despot Erdoğan mit vollem Rückhalt der EU-Mitgliedsstaaten verhindern, dass über türkische Forderungen bei den Seedemarkationslinien im Grenzgebiet diskutiert wurde. Erdoğan wiederum predigt seinen Anhängern seit Jahren, die EU wolle die Türkei nicht, egal, was die Regierung mache.

Die Entfremdung ist nicht zu übersehen. Die wenigen in den vergangenen Jahren erreichten Einigungen folgen längst nicht mehr dem Muster einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit, sondern einer transaktionalen Logik: Ich gebe, wenn Du gibst.

Das mit Abstand wichtigste Beispiel hierfür ist das Migrationsabkommen zwischen der Türkei und der EU. Gegen substanzielle Geldzahlungen sorgt die Türkei seit 2016 dafür, dass syrische Flüchtlinge die Türkei nicht mehr in Richtung EU verlassen.

Dieser Status Quo löst weder in Europa, noch in der Türkei Begeisterung aus, aber er garantiert Stabilität. Die Dominanz Erdoğans verschiebt seit Jahren die Frage in die Zukunft, welche Form der Zusammengehörigkeit man sich eigentlich langfristig wünscht.

Wenn die Ausrede wegfällt

Fällt diese Entschuldigung weg, müssen beide Seiten die Karten auf den Tisch legen. Dies scheint der türkischen Seite leichter zu fallen als der europäischen. Kılıçdaroğlu gibt sich europafreundlich und verspricht, vieles zu ändern: Stärkung der Demokratie, Justizreform, Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit, Verbesserung der Menschenrechtssituation; gar eine Reform der Verfassung ist angedacht, um vom verhassten Präsidialsystem wegzukommen.

Sollte Kılıçdaroğlu die Wahl gewinnen und ernsthafte Schritte in diese Richtung unternehmen, gerät die EU in Zugzwang. Er erwartet zu Recht, dass die EU solche Schritte belohnt – allein schon, um eine neue Regierung zu stabilisieren.

Dabei sind Konflikte bereits vorprogrammiert. Ausgerechnet im für die EU so sensiblen Bereich der Migration dürfte die Zusammenarbeit schwieriger werden. Immer wieder hat Kılıçdaroğlu unterstrichen, dass er das Abkommen mit der EU nicht verlängern möchte. Er spricht dies in Treffen mit europäischen Spitzenpolitikern offen an, und damit keine Zweifel bleiben, twitterte er zu diesem Thema sogar ausnahmsweise auf Englisch.

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Kılıçdaroğlu möchte den Dialog mit dem syrischen Machthaber Assad suchen, um die Flüchtlinge innerhalb von zwei Jahren nach Syrien zurückzuführen. Obgleich dies kaum umsetzbar sein dürfte, ist Ärger mit der EU unausweichlich. Im Gegensatz zur aktuellen Regierung bestehen zur Opposition allerdings immerhin vertrauensvolle Gesprächskanäle, in denen Differenzen bearbeitet werden können.

Unabhängig davon dürften die Türkei-kritisch eingestellten Länder innerhalb der EU einer ernsthaften Wiederaufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen ablehnend gegenüberstehen. Selbst das Inaussichtstellen der Visaliberalisierung ist umstritten.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im EU-Parlament: Eine gemeinsame europäische Strategie zur Türkei fehlt bisher.
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im EU-Parlament: Eine gemeinsame europäische Strategie zur Türkei fehlt bisher.

© AFP/Frederick Florin

Diese Borniertheit gewinnt angesichts der Diskussion um europäische Souveränität an Brisanz. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) unterstreicht zwar, dass sich die EU geopolitischer verstehen müsse, was auch die Aufnahme neuer Mitglieder einschließt. Welche Rolle das Schwergewicht Türkei, wichtiger Akteur in diversen Konflikten in der europäischen Nachbarschaft, in einer sich neu konfigurierenden, europäischen Sicherheitsarchitektur spielen soll, bleibt aber unausgesprochen.

Die Antwort drängt. Erdoğans Politik des Oszillierens zwischen den geopolitischen Blöcken mag zum Teil seinen persönlichen Machtambitionen zuzuschreiben sein. Sie verdeutlicht aber die Gefahr, die besteht, wenn Europa die Türkei nicht endlich auf substanzielle Art und Weise an sich bindet, so dass diese den Blick nicht mehr so häufig nach Moskau und Peking richten wird.

Die strategische Bedeutung einer demokratischen Türkei in der Ära der Zeitenwende ist noch einmal gestiegen, die europäische Außenpolitik trägt dem noch nicht ausreichend Rechnung.

Ein Sieg der Opposition würde ein historisches Zeitfenster öffnen, um strategische Beziehungen zu definieren. Dass dies geschehen wird, ist keinesfalls sicher. Die Türkei scheint bereit für den Wechsel. Die EU – zumindest noch – nicht.

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