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 Die türkische Lira ist durch Erdogans Finanzpolitik seit Jahren im freien Fall. Hier eine Szene aus Istanbul vom Herbst 2021.

© imago images/NurPhoto/Diego Cupolo via www.imago-images.de

Leitzins erstmals seit zwei Jahren angehoben: Erdoğans halbe Kehrtwende im Kampf gegen die Inflation

Als Erdoğan eine Fachfrau für die Zentralbank und einen stabilitätsorientierten Finanzminister berief, gab es Hoffnung auf einen Wechsel seiner Finanzpolitik. Doch er will das Ruder nicht aus der Hand geben.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan setzt bei seinem Rettungsversuch für die Wirtschaft seines Landes offenbar mehr auf Finanzhilfen aus arabischen Ländern als auf Reformen und westliche Investoren.

Die türkische Zentralbank hob am Donnerstag zwar zum ersten Mal seit mehr als zwei Jahren die Leitzinsen an, um die hohe Inflation zu bekämpfen, doch der Zinsschritt von 8,5 auf 15 Prozent blieb hinter den Erwartungen vieler Analysten zurück und enttäuschte die Märkte: Die Lira rutschte gegenüber Dollar und Euro weiter ab.

Dennoch zeigte sich die türkische Regierung optimistisch und erklärte, sie erwarte Investitionen aus reichen Golfstaaten.

Höhere Zinsen sind ein Risiko für die Konjunktur

Die Zinsanhebung war die erste Bewährungsprobe für die neue Zentralbankchefin Hafize Gaye Erkan. Die 44-jährige war nach Erdoğans Wahlsieg vom 28. Mai auf Vorschlag des ebenfalls neuen Finanzministers Mehmet Simsek ernannt worden.

Die Zinsanhebung jetzt ist weder Fisch noch Fleisch. Erdogan will keine Schock-Therapie.

Mustafa Sönmez, türkischer unabhängiger Ökonom

Erkan und Simsek plädieren für eine Rückkehr zu einer berechenbaren Finanzpolitik, von der sich Erfoğan in den vergangenen Jahren entfernt hatte. Der Kurs des Präsidenten hatte die Inflation auf zeitweise über 85 Prozent hochgetrieben und die Reserven der Zentralbank geleert.

Deshalb erlaubte Erdoğan, der im Wahlkampf weitere Zinssenkungen angekündigt hatte, nun eine Anhebung der Leitzinsen.

Höhere Zinsen dämpfen zwar die Inflation, sind aber ein Risiko für die Konjunktur, weil sie Kredite und Investitionen verteuern. Zumindest vorübergehend könnte die Zinsanhebung viele Firmen in den Bankrott treiben und die Arbeitslosigkeit verschlimmern.

Das will Erdoğan wegen der Kommunalwahlen am 31. März kommenden Jahres vermeiden: Bei den Wahlen will er die Herrschaft über die Metropole Istanbul und über die Hauptstadt Ankara zurückgewinnen, die seine Partei AKP im Jahr 2019 an die Opposition verloren hatte.

Weiter entscheidet der Präsident, nicht die Zentralbank

Wegen dieses Widerspruchs zwischen finanzpolitischen Notwendigkeiten im Kampf gegen die Inflation und den politischen Interessen Erdoğans fiel Erkans Zinsanhebung am Donnerstag kleiner aus als vielfach erwartet. „Weder Fisch noch Fleisch“, sagte der unabhängige Wirtschaftsexperte Mustafa Sönmez unserer Zeitung.

85
Prozent betrug die Inflation in der Türkei zeitweise.

Ein großer Zufluss von Geld aus dem Ausland sei unter diesen Bedingungen nicht zu erwarten: Das Zinsniveau liegt mit jetzt 15 Prozent noch weit unter der Inflation von knapp 40 Prozent.

Sönmez erwartet, dass die Zentralbank in den kommenden Monaten die Zinsen weiter nur vorsichtig anheben wird, um Erdoğans Pläne für die Kommunalwahlen nicht zu stören: „Erdogan will keine Schock-Therapie“, sagte Sönmez. Zentralbankchefin Erkan hat demnach keine freie Hand bei Zinsentscheidungen.

Ausländische Analysten, von denen einige eine Zinsabhebung auf 40 Prozent erwartet hatten, zeigten sich enttäuscht.

Der neu ernannte türkische Finanzminister Mehmet Simsek will, im Gegensatz zu Präsident Erdoğan, zurück zu einer berechenbaren Finanzpolitik.
Der neu ernannte türkische Finanzminister Mehmet Simsek will, im Gegensatz zu Präsident Erdoğan, zurück zu einer berechenbaren Finanzpolitik.

© REUTERS/CAGLA GURDOGAN

Wenn Zentralbankchefin Erkan weitere Anhebungen ankündige, sei das einfach nicht überzeugend, schrieb Timothy Ash von der Vermögensverwaltung BlueBay auf Twitter: Schließlich habe Erdoğan in den vergangenen Jahren noch jeden Zentralbankpräsidenten gefeuert, der gegen seinen Willen die Zinsen angehoben habe.

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Wolf Piccoli von der Beraterfirma Teneo kommentierte, die Zinsentscheidung sei eine Enttäuschung für alle, die geglaubt hätten, die Ernennung von Erkan und Simsek werde echte Veränderungen nach sich ziehen. Die Lira fiel nach der Zinsentscheidung auf neue historische Tiefstände gegenüber Dollar und Euro.

25
Prozent ihres Wertes hat die türkische Währung seit Jahresbeginn eingebüßt.

Allein seit Jahresbeginn hat die türkische Währung rund 25 Prozent ihres Wertes eingebüßt. Die Schwäche der Währung macht Importe teuer, darunter die Einfuhr von Öl und Gas.

Erdoğan setzt auf Investitionen aus den Golfstaaten

Erdoğans Regierung hofft, diese Rückschläge mit neuen Milliardenzahlungen aus den Golfstaaten wettmachen zu können. Nach einem Besuch von Finanzminister Simsek und des für die Wirtschaft zuständigen Vizepräsidenten Cevdet Yilmaz in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) meldete die Nachrichtenagentur Reuters am Donnerstag, die Türkei erwarte Investitionen aus den VAE und Saudi-Arabien im Rüstungs- und Energiebereich.

Beide Länder hatten Erdoğan bereits vor der Wahl mit Überweisungen an die türkische Staatskasse geholfen. Nach Medienberichten plant der Präsident selbst einen baldigen Besuch am Golf.

Seine Regierung versucht auch auf anderen Wegen, die Inflation zu begrenzen. Sie gab am Donnerstag bekannt, dass ab dem 1. Juli die Mieten in der Türkei ein weiteres Jahr lang um höchstens 25 Prozent angehoben werden dürfen.

Allerdings kann Erdoğan nicht sicher sein, dass sein Plan aufgeht. Experten wie Sönmez bezweifeln, dass die Türkei mit Geldern aus dem arabischen Raum dauerhaft ihre Wirtschaft sanieren können wird.

Auch bleibt es nach der Zinsanhebung vom Donnerstag dabei, dass Erdoğan über die Zinspolitik entscheidet – und nicht die Zentralbank, die ihre Unabhängigkeit in den vergangenen Jahren eingebüßt hatte und auch unter ihrer neuen Chefin vom Präsidenten abhängig bleibt.

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