zum Hauptinhalt
Zwei Wahlplakate in Istanbil zeigen den oppositionellen Kandidaten Kemal Kilicdaroglu (rechts) und den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.

© dpa/Zuma Press/Tolga Ildun

Türkische Wahlen und Deutschland: Auch Erdogan galt mal als Hoffnungsträger für mehr Demokratie

Viele in Europa wünschen sich, dass Kemal Kilicdaroglu den autoritären Recep Tayyip Erdogan als Präsident der Türkei ablöst. Doch eine Garantie für einen tiefgreifenden Wandel wäre das nicht.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Sei vorsichtig, was du dir wünschst – es könnte in Erfüllung gehen, warnt ein Sprichwort. Denn fast jede gute Absicht hat Nebenwirkungen, die weniger willkommen sind und sogar zur Hauptströmung werden können.

Die inneren Entwicklungen der Türkei und ihre Wechselwirkungen mit Deutschland und Europa bieten zahlreiche Beispiele für solche Widersprüche zwischen Wünschen und ihren Folgen. Die historischen Erfahrungen können als Wegweiser dienen, wenn Türken und Deutsche auf die Präsidentenwahl am Ende dieser Woche blicken.

Viele in Europa hoffen, dass Kemal Kilicdaroglu als Kandidat eines breiten Oppositionsbündnisses den autoritären Amtsinhaber Recep Tayyib Erdogan besiegt. Wenn nicht bereits am kommenden Sonntag, dann in der Stichwahl 14 Tage später. Und sich dann die Konflikte zwischen der Türkei und der EU sowie deren Folgen für das Zusammenleben mit den Millionen türkischstämmigen Menschen in Deutschland befrieden lassen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Von der One-Man-Show zurück zu Parlamentarismus

Gewiss wäre ein Wechsel im Präsidentenamt für die Türkei, Deutschland und Europa besser als weitere fünf Jahre der selbstherrlichen Machtausübung Erdogans ohne „checks and balances“ durch Parlament und Justiz. Zumal Kilicdaroglu versprochen hat, die enormen Vollmachten des Präsidenten, die Erdogan nach einem angeblichen Putschversuch des Militärs 2017 durchgesetzt hatte, zu reduzieren und zu einer effektiven Gewaltenteilung zurückzukehren.

Doch wie viel strukturellen Wandel darf man erhoffen? Die Sechs-Parteien-Koalition, die Kilicdaroglu stützt, wird durch den Willen zusammengehalten, das „Ein-Mann-Regime“ zu beenden, nicht durch eine gemeinsame Vorstellung von der Zukunft.

Wird sie, falls ihr Kandidat Präsident wird, parallel eine Parlamentsmehrheit erringen oder wird Erdogans AKP das neue Staatsoberhaupt ausbremsen? Und selbst wenn der Doppelsieg gelänge: Wie lange hält eine Koalition, die von Sozialisten über Konservative bis zu kurdischen Parteien reicht?

Die Inflation bedroht Erdogan, nicht sein autoritärer Stil

Die Gesellschaft ist gespalten, das Lager der Erdogan-Gegner ungefähr gleich groß wie das seiner Unterstützer. Soweit sich frühere Wähler von ihm abgewandt haben, sind die Hyperinflation, allen voran die steigenden Preise für Grundnahrungsmittel wie Zwiebeln und Gurken, das Hauptmotiv, nicht ein breites Erschrecken, dass so viele Oppositionelle und Journalisten im Gefängnis sitzen und Erdogan gezielt Minderheiten verunglimpft, um von der Spaltung der Gesellschaft zu profitieren.

Die Hoffnungen auf einen Systemwechsel, die sich jetzt auf Kilicdaroglu richten, ruhten vor zwei Jahrzehnten auf Erdogan. Als Anführer einer Bewegung von unten, die Arbeiter, das Kleingewerbe und einfache Muslime zusammenführte, werde er das Militär, das zuvor regelmäßig geputscht hatte, in die Schranken weisen, Politik und Wirtschaft reformieren und der Welt ein Beispiel geben, dass Demokratie und Islam vereinbar sind.

Mit Blick auf Erdogan als Modernisierer hatte die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer für eine beschleunigte Aufnahme der Türkei in die EU geworben. Aus dem Hoffnungsträger ist ein Diktator geworden. Aus dem Traum der demokratischen Revolution von unten der Alptraum, wie widerspruchslos die einfachen Leute den Wandel zum autoritären Nationalismus mittrugen.

Und aus der Empörung, dass der EU-Beitritt sich wegen der Zweifel angeblich ewiggestriger Europäer verzögerte, wurde eine verbreitete Erleichterung, dass dieser Wunsch sich nicht erfüllte. Wie stünde es um die Handlungsfähigkeit der EU, wenn Erdogan als Präsident eines EU-Landes mit Vetorecht in Brüssel mitzureden hätte?

Die widersprüchlichen Wechselwirkungen ziehen sich bis in den deutschen Umgang mit türkischen Wahlen. Deutsche sind überrascht, dass die Erfahrung mit der offenen Gesellschaft die hier lebenden türkischen Wähler nicht etwa zu Anhängern liberaler Kräfte macht. Sie wählen mehrheitlich Erdogans AKP.

Als Konsequenz aus den Konflikten, die Erdogans frühere Wahlkampfauftritte in Deutschland schürten, folgte ein Verbot, türkischen Wahlkampf hierzulande offen auszutragen. Besonders die Grünen drängten darauf, riefen jedoch die hier lebenden Türken auf, Erdogan nicht zu wählen. Werbeverbot für das Gegenlager und selbst Empfehlungen abgeben – das setzt auch nicht gerade ein Beispiel für Demokratie.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false