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Anhänger der oppositionellen CHP feiern in Istanbul nach der Kommunalwahl.

© IMAGO/ZUMA Wire/IMAGO/Tolga Ildun

Schwere Niederlage Erdogans bei Kommunalwahl: Die neue Türkei wird sichtbar – sie sieht anders aus

Der türkische Präsident wird die verlorenen Wähler nicht zurückholen können. Auch wenn er auf aggressive Außenpolitik setzt. In der Türkei verschiebt sich etwas.

Ein Kommentar von Susanne Güsten

Eine Bürgermeisterwahl in Istanbul leitete vor genau 30 Jahren eine neue Ära in der Türkei ein: Damals betrat Recep Tayyip Erdoğan die politische Bühne.

Jetzt hat eine Wahl am Bosporus das Ende der langen Karriere des türkischen Präsidenten eingeläutet: Er hat die Kommunalwahl in Istanbul und in anderen Landesteilen am Sonntag haushoch verloren.

Die Erfolgsrezepte der vergangenen Jahrzehnte funktionieren nicht mehr, eine neue politische Landschaft mit neuen Politikern entsteht. Noch ist Erdoğan nicht am Ende. Doch die türkische Politik bereitet sich bereits auf die Zeit nach seinem Abgang vor.

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70 Prozent Inflation verärgern die Wähler

Bei Kommunalwahlen gelten zwar andere Regeln als bei Präsidentschafts- oder Parlamentswahlen. AKP-Stammwähler konnten ihrem Präsidenten am Sonntag einen Denkzettel verpassen, ohne damit einen Machtwechsel in Ankara auszulösen.

Doch das Ausmaß des Oppositionssieges deutet darauf hin, dass in der türkischen Politik etwas ins Rutschen geraten ist, das von Erdogan möglicherweise nicht mehr zu stoppen ist.

Für die Niederlage des Präsidenten gibt es mehrere Gründe. Die Wähler sind verärgert über die Inflation von fast 70 Prozent und die Opposition präsentierte mit Ekrem Imamoğlu eine überzeugende Führungspersönlichkeit.

Ekrem Imamoğlu ist der neue Gegenspieler von Präsident Erdoğan.
Ekrem Imamoğlu ist der neue Gegenspieler von Präsident Erdoğan.

© AFP/YASIN AKGUL

Hinzu kam Erdoğans Hochmut. Er schickte in Istanbul und anderen Städten nicht die besten Politiker seiner Partei AKP ins Rennen, sondern schwache Kandidaten, deren wichtigste Eigenschaft die bedingungslose Loyalität zu ihm selbst war.

Noch nie hat der erfolggewohnte Staatschef die Lage im Land so falsch eingeschätzt.

Susanne Güsten, Korrespondentin des Tagesspiegels in der Türkei

Erdoğan setzte darauf, dass die Wähler der Opposition zu Hause bleiben und dass seine eigenen Anhänger dem Versprechen glauben würden, dass die Wirtschaft auf dem Weg der Besserung sei. Noch nie hat der erfolggewohnte Staatschef die Lage im Land so falsch eingeschätzt.

Imamoğlus Oppositionspartei CHP verdanke ihren Erfolg nicht zuletzt ihrem Verzicht auf einen Kulturkampf zwischen säkularen und islamisch-konservativen Türken, sagt der Türkei-Experte Howard Eissenstat von der US-Universität St. Lawrence.

Auch in der Hauptstadt Ankara siegt die oppositionelle CHP unter Bürgermeister  Mansur Yavas haushoch.
Auch in der Hauptstadt Ankara siegt die oppositionelle CHP unter Bürgermeister Mansur Yavas haushoch.

© IMAGO/SOPA Images/IMAGO/Tunahan Turhan / SOPA Images

Dieser Pragmatismus gehört zu Imamoğlus Strategie, die CHP von ihren ideologischen Scheuklappen als Partei der Säkularisten zu befreien und so ihre Wählerbasis zu verbreitern. Dagegen müsse sich die AKP ab sofort fragen, „ob sie ohne Erdogans Star-Power überleben kann“, analysiert Eissenstat.

Besonders bitter für Erdoğan ist, dass die AKP erstmals von islamistischer Seite herausgefordert wird. Die Neue Wohlfahrtspartei (YRP) kam landesweit auf über sechs Prozent – das ist mehr als doppelt so viel wie bei den Parlamentswahlen vor zehn Monaten.

Sohn des politischen Ziehvaters nun Konkurrent

YRP-Chef Fatih Erbakan ist ein Sohn des früheren islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan, des politischen Ziehvaters von Erdoğan. Der junge Erbakan empfiehlt sich nun erfolgreich als saubere islamistische Alternative zur Korruption der AKP-Regierung.

Erdoğan wird es nach der verlorenen Wahl schwer haben, enttäuschte Wähler zurückzuholen. In der Wirtschaftspolitik wird er den Türken mit einer Sparpolitik noch mehr Opfer abverlangen müssen, wenn er die hohe Inflation stoppen will.

Dabei beschweren sich wichtiger Unterstützergruppen der AKP wie die Rentner schon jetzt, dass das Leben unerträglich teuer geworden sei. Die CHP als größte Oppositionspartei kann das für sich nutzen.

Aggressivere Außenpolitik zu erwarten

Der türkische Präsident dürfte nun wieder versuchen, seine Anhänger mit einer aggressiv-nationalistischen Außenpolitik auf andere Gedanken zu bringen. Schon vor dem Wahltag kündigte er für den Sommer neue Militärinterventionen gegen die kurdische Terrororganisation PKK im Irak und in Syrien an.

Bei seiner Politik der Annäherung an den Westen dürfte Erdoğan aber bleiben, denn er braucht Investoren und ein gutes Verhältnis zu Europa und den USA, etwa um die Zollunion mit der EU zu modernisieren.

Der Präsident propagiert seit Jahren eine „neue Türkei“, die er unter seiner Alleinherrschaft formen will. Nun zeichnet sich tatsächlich eine „neue Türkei“ ab – aber sie sieht anders aus, als Erdogan sich das vorstellt.

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