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Die queeren Jugendlichen Kolumbiens begehren gegen die Macho-Männlichkeit der abwesenden Väter auf.

© Salzgeber

„Anhell69“ im Kino: Die Jugend feiert Sex im Jenseits

Der kolumbianische Regisseur Theo Montoya hat mit „Anhell69“ einen erotischen Revolutionsfilm zwischen Fiktion und Dokumentation gedreht. Eine queere Utopie.

2017 in Medellín, ein Jahr nach dem Friedensabkommen zwischen Regierung, Paramilitärs und FARC-Rebellen. Menschen Anfang zwanzig sitzen in einem schmucklosen Raum und machen Casting-Aufnahmen für den Filmstudenten Theo Montoya. Seit einem Jahr können sie über eine gewaltfreie Zukunft nachdenken, sich etwas vorstellen, was über das bloße Überleben hinausgeht. Und damit einen anderen Weg einschlagen als ihre Väter, die untergetaucht sind, getötet wurden, früh aus den Familien verschwanden.

Die jungen Menschen schauen melancholisch, aber selbstbewusst in die Kamera. Man sieht schwarze Fingernägel, tätowierte Handgelenke, Bridge-Piercings, Kreolen, Satinhemden in Übergröße, Spaghettiträger-Tops. Nicht-binärer Style, von der Macho-Männlichkeit der abwesenden Väter entkoppelt, queerer Gegenzauber der Jugend.

Zu Beginn liegt Theo Montoya mit offenen Augen in einem Sarg, lässt sich vom kolumbianischen Kultregisseur der Bürgerkriegszeit, Victor Gaviria, mit dem Leichenwagen durch die Nacht chauffieren. Er erzählt, was das für ein Film hätte werden sollen, für den er die Jugendlichen gecastet hatte. Eine wüste Gore-Fantasie, die in einem dystopischen Medellín spielt, in dem die Toten keinen Platz mehr auf den Friedhöfen finden.

Die dunklen Engel der Begierde

Als sexy Geister in hautenger schwarzer Kleidung und brennend roten Augen wandeln sie unter den Lebenden, der Sex mit ihnen wird zu einer erotischen Mode, „Spektrophilie“ genannt, von Kirche und Polizei bekämpft, von Säuberungskommandos beinahe ausgerottet.

Die Jugend geht auf die Straße und kämpft für ihr Recht, mit den Geistern zusammenzuleben. Unter ihnen ist einer, der aus Liebe zum Geist wurde, „Anhell69“, ein Wortspiel aus Engel und Hölle, mit der 69 als erotischer Verknüpfung, ein dunkler Engel der Begierde.

Montoyas Film ist ein Dokumentarfilm, als solcher wurde er beim Leipziger Dokumentarfilmfestival mit dem Preis für den besten Film im internationalen Wettbewerb ausgezeichnet. Die Casting-Aufnahmen sind echt, dazwischen sind aber Spielfilmszenen montiert. Der ursprüngliche „Anhell69“ ist nie gedreht worden, denn der Hauptdarsteller starb eine Woche nach dem Interview, andere aus seiner Clique wenig später.

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Eine Generation, die statt der Zukunft erstmal die Gegenwart feiern wollte, mit Partys, Drogen. Sich queer ausprobieren in einem traumatisierten Land, in dem die Gewalt noch immer die Straßen beherrscht. Man schaut auf die Casting-Aufnahmen danach mit anderen Augen: „Ich bin 23, und nichts bewegt mich“, sagt da einer.

Film als Ort, an dem die Toten betrauert werden

Diese Jugendlichen sind die Geister des Films, sie suchen ihn heim und bleiben. Und Montoya, der spektrophile Filmemacher, hält an seinem Begehren fest, baut den verstorbenen queeren Gleichaltrigen, die im nationalen Trauma-Verarbeitungsprojekt keine Rolle spielen, einen Film als Ort, an dem sie betrauert werden können – und schickt uns auf eine sinnliche, tropische Geisterfahrt.

Das kolumbianische Medellín, zusammengestaucht zwischen Bergen, wirkt wie eine Geisterstadt.
Das kolumbianische Medellín, zusammengestaucht zwischen Bergen, wirkt wie eine Geisterstadt.

© Salzgeber

Die Philosophin Elizabeth Freeman hat auf queere Formen der generationalen Weitergabe hingewiesen, die sich nicht heteronormativ auf Vererben von Status, Vermögen und dem Familiennamen gründen können. Sie behauptet, dass auch Momente nicht-reproduktiver Lust gespeichert und vererbt werden können. Analog aufgenommene Filme spielen dabei eine große Rolle, gerade wegen ihrer prekären Materialität, den Gebrauchsspuren durch verliebtes Wiederabspielen, den Verlusten, die durch das Kopieren und Weitergeben innerhalb der Communitys entstehen.

Unscharfe Grenze zwischen Dokument und Fiktion

Ein digitaler Film wie „Anhell69“ hat diese Sinnlichkeit nicht, er muss sie konstruieren. Im Compositing der Bilder stürzt unterschiedliches Material zusammen, auf der unscharfen Grenze zwischen Dokument und Fiktion entsteht ein utopischer Raum des Denk- aber noch nicht Realisierbaren. Die Toten bleiben sichtbar, die Gegenwart scheint in neuen Farben, die Vergangenheit wird niemals abgetrennt.

Im tropischen Zauber, den „Anhell69“ zelebriert, lassen sich die Geister nicht als Realitätsverlierer entsorgen. In der nicht-binären Ekstase der melancholischen, aber doch auch grellen und farbenfreudigen Montagen wird eine Zukunft für diejenigen inszeniert, die in der neuen Gegenwart aufgehen: Hormone nehmen, ein Kunstwerk werden, raus aus der sogenannten Dritten Welt!

Medellín ist eine Stadt, in der man den Horizont nicht sehen kann, sagt der untote Erzähler. Eingekesselt zwischen Bergen, zusammengestaucht, ein Friedhof, eine Geisterstadt. Drohnen blicken von oben auf das Muster der Großstadt, nicht darüber hinaus. Aus dem Leichenwagen heraus schaut der Film in die andere Richtung, den offenen Himmel, auf der Grenze zwischen Leben und Tod.

Tatsächlich treffen sich die Überlebenden, eine verlorene Generation des fragilen Friedens, deren Porträt nicht von ungefähr an die Trauerfilme der schwulen Communitys nach der Aids-Zeit erinnert, auf dem Friedhof wieder und tauschen Zärtlichkeiten aus. Eine Figur hat einen letzten großen Auftritt in Drag, danach wird auch sie zum Geist. Ohne aber aus „Anhell69“ zu verschwinden.

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