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Musikprojekt: „Ukrainian Songs Of Love and Hate”.

© Oksana Shchur

Ukrainisches Kriegstagebuch (132): Songs of Love and Hate

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Von Yuriy Gurzhy

6.5.2023
Unser Projekt „Ukrainian Songs Of Love and Hate” wurde eingeladen, um zum Prolog vom Düsseldorfer Asphalt Festival aufzutreten. Irena Karpa lebt in Paris, Lyuba Yakimchuk in Kyiv, unsere Kuratorin Oksana Shchur und ich in Berlin – für die Veranstalter keine einfache Logistik. Und Grigory Semenchuk ist zwar in Lviv, darf aber das Land nicht verlassen, so wie zurzeit auch die meisten Ukrainer im Wehrpflichtalter.

Manchmal wird behauptet, schuld daran sei das ukrainische Kulturministerium, das die Ausreiseregeln neulich verschärft hat – was natürlich nicht die eigentliche Ursache des Problems ist, denn verantwortlich dafür ist russland. 

Künstler und Künstlerinnen verlieren ihr Leben an der Front

russland ist daran schuld, dass ukrainische Künstler*innen – Musiker*innen, Filmemacher*innen, Autor*innen und alle anderen seit Monaten nicht an den neuen Büchern arbeiten, nicht neue Liebeslieder schreiben, keine historischen Serien oder romantische Komödien drehen, sondern entweder mit einem Gewehr in der Hand für ihr Recht kämpfen, in der unabhängigen Ukraine zu leben, oder damit beschäftigt sind, Spenden zu sammeln und aus diesen Geldern zu kaufen, was gerade an der Front fehlt. Einige verlieren dabei ihr Leben. Obwohl die Ukrainer*innen wahrscheinlich andere Beschäftigungen bevorzugen würden, haben sie derzeit keine Wahl.

Darüber rede ich mit Lyuba, Irena und Oksana vorm Konzert in der Künstlergarderobe – und das ist auch das erste Thema, was wir ansprechen, als wir die Bühne betreten. 

34 OST ist keine gewöhnliche Spielstätte, es sind ehemalige Verkaufsräume von Conrad Electronic. Gewöhnlich ist aber an diesem Abend gar nichts – und das ist auch gut so. Zu uns sind Ukrainer*innen und Deutsche gekommen, manche sprechen kein Deutsch, andere kein Ukrainisch – wir versuchen, mit unseren Zuschauern auf Englisch zu kommunizieren in der Hoffnung, möglichst viele von ihnen zu erreichen. Der Sprachmix wird aber trotzdem chaotisch – es kommt immer wieder vor, dass eine*r von uns den Satz auf Englisch beginnt und ihn dann auf Ukrainisch endet.

Musik über fliegende Drohnen, fallende Bomben

Es gibt hier offensichtlich Menschen, die sie schon gehört haben und enthusiastisch mitsingen, die meisten von ihnen kommen wahrscheinlich aus der Ukraine – und dann aber auch solche, die uns heute zum ersten Mal erleben. Ich habe den Eindruck, manche sind mit unserem Programm etwas überfordert – kein Wunder, die Poplieder über verlorene Zuhause, fliegende Drohnen, fallende Bomben und brennende Städte sind eine schwere Kost. 

Neulich veröffentlichte das Berliner Poesiekollektiv Landschaft eine deutsche Version von unserem Stück Bavovna, ich hörte sie mir mehrmals an, um zu verstehen, was mir so außergewöhnlich erscheint und bin dann darauf schließlich gekommen: in den 14 Monaten des großen Krieges russlands in der Ukraine kenne ich kaum Songs auf Deutsch, die sich damit auseinandersetzen. Aus solchem Stoff möchte man hier keine Musik machen, die Charts werden nach wie vor von Baby Don’t Hurt Me und Be My Lover dominiert. Was würde ein deutscher Radiohörer sagen, wenn er stattdessen im Rundfunk “My sweetest affection, Ukrainian Army in action” hören würde?

Wir bleiben nach dem Konzert, um uns mit dem Publikum zu unterhalten. Die 18jährige Tochter von einem lieben Freund aus Charkiw ist da, sie ist im März 2022 mit ihrer Mutter in Düsseldorf gelandet. Ein netter schwarzhaariger Typ im gelbblauen T-Shirt spricht mich auf Russisch an, er kommt aus Schytomyr, meint er, und lebt seit 30 Jahren in Deutschland, nach Düsseldorf ist er heute extra wegen uns gekommen. Er möchte gern sein Ukrainisch üben, sagt er, doch in seinem Umfeld gäbe es keine Ukrainischsprachler, leider. Mit einem Pärchen aus Charkiw tauschen wir uns über die besten Telegram-Nachrichtenkanälen aus. 

Zwei Mitarbeiterinnen der ukrainischen Botschaft möchten uns Düsseldorf zeigen. Wir ziehen mit unseren Rucksäcken, Kleidern, Gitarren und Koffern durch die Nacht. Auf dem Weg machen wir kurz halt in einem Dönerladen, wo man uns fragt, wo wir herkommen und dann sofort ukrainische Musik auflegt. 

Gegen eins sind wir endlich im Hotel. Ich mache mein Handy an und lese eine Nachricht aus Kiew: „Der Mann meiner Freundin, der seit Mai 2002 in russischer Gefangenschaft war, ist heute zurückgekehrt. Welch Glück!”

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