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Der Görlitzer Bahnhof an der Bahnhofstraße.

© imago images/lausitznews.de/Thomas Hurny

Ukrainisches Kriegstagebuch (128): Meine Nachtreisen, Marcel Beyer und aufmerksame Kids in Görlitz

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

19.–20.4.2023
Mein Handy schalte ich nur ganz selten aus, doch im Theater mache ich es immer, denn fremde Geräusche können schnell die zerbrechliche Atmosphäre bei den Proben verderben. Als ich nach einem erfolgreichen Durchlauf von „Wie man mit Toten spricht“ am Nationaltheater Mannheim mein Iphone wieder anmache, erscheint als Erstes eine Nachricht von der Deutschen Bahn, die mitteilt, dass ich bald meinen ersten Umstieg verpasse. Das wäre ein absolutes Desaster – wenn es nicht klappen würde, fällt mein ganzer Reiseplan auseinander, und Alternativen dazu gibt es nicht.

Ich hätte dann genauso gut in Mannheim bleiben können und mich bei den Veranstalter*innen von den Literaturtagen an der Neiße entschuldigen, aber das will ich auf keinen Fall. Ich schaue auf die Uhr und mache mich direkt auf den Weg zum Bahnhof – eine Stunde früher als geplant, in der Hoffnung, einen früheren Zug nach Karlsruhe zu erwischen – und es klappt.

Morgens um 10 soll ich zusammen mit der Journalistin und Bloggerin Ira Peter vor Gymnasiasten aus Görlitz über die Ukraine sprechen, und dann am gleichen Abend habe ich eine weitere Veranstaltung mit Marcel Beyer, den ich schon lange kennenlernen wollte, anschließend lege ich noch auf.

Mein Zug kommt spät zuerst in Karlsruhe, dann auch in Leipzig an, aber ich schaffe es noch, meinen nächsten Zug zu erwischen. Weniger Glück habe ich in Cottbus, wegen einer weiteren Verspätung muss ich eine Stunde auf die nächste Regionalbahn warten und komme in Görlitz im Endeffekt nicht um 7.46 Uhr, sondern um 9.20 Uhr an.

Es nieselt, während Google Maps mich zum Augustum-Anne-Gymnasium führt. Auf dem Weg sehe ich mein Hotel, aber aus dem Plan, dort zu frühstücken und mich zu duschen, wird nichts. Dafür stehe sich kurz vor 10 im Schulhof – der Inbegriff der Pünktlichkeit, deutscher als die Deutsche Bahn.

In der Aula berichten Ira und ich von unseren Reisen in die Ukraine. Über 100 Kinder hören uns dabei konzentriert zu – solche Aufmerksamkeit habe ich, ehrlich gesagt, nicht erwartet und bin angenehm überrascht. Anschließend werden uns Fragen gestellt. Zum Beispiel was wir vom Manifest für Frieden von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer halten oder auch warum ich hier bin und nicht an der russisch-ukrainischen Front kämpfe.

Es fühlt sich an, als ob wir uns schon lange kennen

Zwischen den beiden Veranstaltungen versuche ich, meine Rückreise nach Mannheim umzuplanen. Am Freitag findet am Nationaltheater die Generalprobe statt, jedoch streiken die Mitarbeitenden der Deutsche Bahn, und mit meinen bereits vor Wochen gebuchten Tickets würde ich im besten Fall erst sechs oder sieben Stunden später am Ziel ankommen, shit!

Ich kaufe mir eine Karte für den Flixbus aus Dresden, der einzige Haken: Der Bus fährt nachts, und für mich wird dies die zweite Nachtreise in Folge … Ach ja, und nach der Abendveranstaltung muss ich noch irgendwie nach Dresden kommen. Schön, dass das Festival mir dafür einen Dienstwagen anbietet.

Auf der Bühne mit Marcel Beyer abends werde ich das Gefühl nicht los, dass wir uns schon lange kennen und dieses Gespräch früher begonnen haben. Ende Mai 2022 war ich sehr angetan von seiner Rede bei der Frühjahrstagung der Akademie für Sprache und Dichtung. Bei allem, was er zur Ukraine sagt, spürt man, wie nah ihm das Thema ist. Ich habe neulich festgestellt, dass wir quasi musikalisch verwandt sind: Wir waren beide Gäste bei dem Album „Klein ist die Welt“ der Dresdner Banda Comunale vor zwei Jahren.

Nach der Veranstaltung verabschieden wir uns schnell, aber herzlich. Ich hoffe, irgendwann in den nächsten Monaten nach Dresden zu kommen und mich wieder mit Marcel Beyer zu treffen. Und Ira Peter werde ich bereits am Samstag bei unserer Premiere sehen.

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