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Sänger Shane MacGowan im Jahr 1995.

© REUTERS/stringer

Ukrainisches Kriegstagebuch (182): Auf der Spur der Pogues

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

30.11.2023
Auf den Bildern von Shane MacGowan, die in den letzten Jahren auftauchten, wirkte er stark gealtert und schien gesundheitliche Probleme zu haben. Trotz alledem waren seine Fans nach wie vor fest davon überzeugt, dass der legendäre Sänger der englisch-irischen Band The Pogues, der Heilige Trinker, alles überleben würde – schließlich gehörte er zu jenen Musikikonen, von denen man annimmt, dass sie ewig leben. Doch gnadenlos in ihrer Eindeutigkeit verbreitete sich am Donnerstag die Nachricht von MacGowans Tod über das Internet.

The Pogues habe ich zum ersten Mal 1992 gehört. Ich war im ersten Semester meines Fremdsprachen-Studiums und habe an der Charkiwer Uni viele interessante Leute kennengelernt. Darunter war auch Artem, der Englische Philologie studierte und zwei Jahre älter als ich war.

Zu diesem Zeitpunkt kannte ich nur wenige Personen, die im Ausland gewesen waren, geschweige denn in einem Land außerhalb des Ostblocks, insbesondere Großbritannien, dessen Sprache wir fleißig studierten. Artem war einer von ihnen. Unter den Musikliebhabern war er dafür bekannt, von seinen Reisen Musik mitzubringen, die in Charkiw sonst nirgendwo zu finden war.

Eines Tages lieh er mir ein paar seiner Kassetten aus, auf denen auch The Pogues zu hören waren. Von ihren Songs und ihrem Sound war ich sofort begeistert und verliebte mich auf der Stelle in den Celtic Punk.

Während seiner Zeit in London hatte Artem das Glück, The Pogues live zu sehen. Sein Erlebnisbericht war ein beliebtes Thema in der Raucherecke der Cafeteria im Untergeschoss unserer Uni. „Der Sänger war so besoffen, dass er kaum laufen konnte und von zwei Kumpels auf die Bühne getragen wurde. Die standen dann die ganze Zeit rechts und links von ihm und hielten ihn vorm Mikrofon fest. Aber manchmal vergaßen die beiden Begleiter, die auch nicht ganz nüchtern waren, ihre Aufgabe und fingen an, enthusiastisch zu jubeln. Dann fiel der Sänger einfach zu Boden.“

Plötzlich waren Punkrock und traditionelle Musik keine Parallelwelten mehr

In meiner Kindheit war Volksmusik zwar allgegenwärtig, doch durch die Bemühungen des Kulturministeriums wurde sie in Radio und Fernsehen so präsentiert, dass vielen die Freude daran verging. Hauptsächlich mit der Landbevölkerung in Verbindung gebracht, galt sie als hoffnungslos unmodern.

Meine Freunde und ich träumten alle davon, E-Gitarren und Schlagzeug zu spielen – Sopilka, Kobza und Akkordeon betrachteten wir als das Gegenteil von Coolness. Doch dann kamen die Pogues, und plötzlich waren Punkrock und traditionelle Musik keine Parallelwelten mehr, sondern schienen einander ganz natürlich zu ergänzen – und das Ergebnis klang fantastisch!

Vopli Vidopliassova aus Kiew war die erste ukrainische Band, bei der in den punkigen Songs neben der verzerrten Gitarre auch das Knopfakkordeon eine prominente Rolle spielte – und das Ganze wirkte keineswegs peinlich, sondern absolut großartig! Während sich viele ihrer Musikerkollegen darauf konzentrierten, Musik aus Amerika oder dem Nachbarland zu imitieren, haben sie gezeigt, dass Inspiration auch aus einer anderen Quelle stammen kann. Durch ihre Interpretationen traditioneller ukrainischer Songs folgte Vopli der Spur von The Pogues und ebnete damit vielen jüngeren Bands den Weg.

Interessant und auf gewisse Weise symbolisch, dass neben den zahlreichen Pogues-Videos auch die Musiker von Vopli Vidopliassova in meinem aktuellen Facebook-Feed auftauchen. Allerdings hat es diesmal nichts mit ihrer Musik zu tun. Yevhen Rogaczewski, der Gitarrist der Band, befindet sich seit fast zwei Jahren an der Front.

Gemeinsam mit seinem Sohn, der neben ihm in derselben Einheit kämpft, startete er eine Crowdfunding-Kampagne, um Geld für ein Nachtsichtmonokular und ein Handfunkgerät zu sammeln. Sein ehemaliger Bandkollege Oleksandr Pipa ist seit Beginn des Großen Krieges damit beschäftigt, Drohnen für die ukrainische Armee zu bauen.

Und obwohl ich mir wünschen würde, sie wieder mit einem Instrument in der Hand zu sehen, ist mir bewusst, dass dies erst nach einem Sieg der Ukraine in diesem Krieg möglich sein wird.

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