Revolte gegen das Klimapaket „Fit for 55“ der EU: Das Todesurteil für den Verbrenner verzögert sich
Wegen Krieg und hoher Preise gibt das Europaparlament dem sozialen Frieden den Vorrang vor Klimaschutz. Und verwässert die Pläne der Kommission. Ein Kommentar.
Der russische Krieg gegen die Ukraine verschiebt die Prioritäten der Politik. Als die EU-Kommission das Klimaschutzpaket "Fit for 55" plante, schien das Aus für den Verbrennungsmotor spätestens 2035 ein Selbstläufer zu sein.
Das galt auch für ihren Plan, den Energieverbrauch privater Haushalte in den Emissionshandel einzubeziehen. Dagegen regte sich zwar Widerstand. Aber der Vorrang für Klimaschutz entsprach dem Zeitgeist.
Inzwischen gelten diese Annahmen nicht mehr. An diesem Mittwoch Nachmittag stimmt das Europäische Parlament über "Fit for 55" ab. Ob es das Aus für Verbrenner beschließt, ist offen. Selbst wenn die Mehrheit dafür stimmt, dürfte sich das Todesurteil für den klassischen Autoantrieb zumindest verzögern. Denn auch der Europäische Rat - das Gremium der nationalen Regierungen - muss zustimmen, ehe ein Verbot in Kraft tritt.
Der Krieg und die hohen Energiepreise haben die Rangfolge der politischen Ziele verändert. Klimaschutz ist gewiss auch noch wichtig. Die Volksvertreter und die nationalen Regierungen stehen jedoch unter Druck, auf die soziale Verträglichkeit ihrer Klimapolitik zu achten.
Abgeordnete spüren den Zorn der Wähler direkter als die Kommission
Deshalb bläst das Europäische Parlament zur Revolte gegen die ehrgeizigen Klimaziele der Kommission. Die nationalen Regierungen der EU-Staaten verfolgen die Auswirkungen des Pakets „Fit for 55“ auf die Portemonnaies der Bürger schon lange mit Argwohn.
Wer kann die Energiepreise noch bezahlen? Welche Folgen haben sie für Jobs und Löhne? Was Wählerinnen und Wähler über Klimapolitik denken, spüren Abgeordnete und Regierungen direkter als die Kommission.
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Mit seinem Widerstand gegen die zusätzliche Belastung privater Haushalte durch „Fit for 55“ wird das Parlament vom Antreiber zum Bremser beim Klimaschutz. Aber auch machtpolitisch vollzieht es einen Bündniswechsel.
Das Parlament verbündet sich mit den nationalen Regierungen
Die EU hat drei Machtzentren, die sich einigen müssen: die Kommission, das Parlament und den Europäischen Rat als Vertretung der Mitgliedstaaten.
In der Regel verfolgen Kommission und Parlamentsmehrheit das gemeinsame Ziel, mehr Macht nach Brüssel zu verlagern und die EU-Staaten zu einer progressiveren Politik zu drängen. Der Rat verteidigt den Einfluss der nationalen Regierungen und bremst. In der Klimapolitik verbünden sich nun aber Parlament und Rat gegen die Kommission.
Der Krieg hat den Streit um das Tempo beim Klimaschutz zugespitzt. Die Staaten der Erde sind weit davon entfernt, die vereinbarte Reduzierung der Schadstoffe zu erreichen. Das gilt auch für Europa, das mehr tut als die USA.
Doch große Verschmutzer wie China, Russland und arabische Ölstaaten machen zunichte, was westliche Volkswirtschaften an Fortschritt erreichen. Unter diesem Eindruck kämpften Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und ihr Vize Frans Timmermans 2021 für eine schnellere und höhere Bepreisung – nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für private Haushalte.
"Geldwesten" zeigten schon vor dem Krieg die soziale Sprengkraft
Die EU soll Vorbild sein. Klimaschutz, wirtschaftlicher Erfolg und ein auskömmlicher Alltag sind keine Gegensätze. Was sie im Paket „Fit for 55“ planten, ging schon damals vielen in der EU zu weit.
Protestbewegungen wie die „Gelbwesten“ in Frankreich zeigten die soziale Sprengkraft. Doch die Klimaschützer behielten die Oberhand, jedenfalls in der Kommission und den maßgeblichen Parlamentsausschüssen.
Als jedoch die Marktpreise für Energie im Herbst und Winter drastisch stiegen, begannen viele nationale Regierungen die EU-Strategie einer politisch gewollten, weiteren Verteuerung zu konterkarieren. Sie senkten die nationalen Steuersätze auf Energie, strichen Stromabgaben, verordneten teils sogar staatliche Obergrenzen für den Gaspreis.
Beim Jahreswechsel taten das bereits mehr als 20 der 27 EU-Mitglieder. Inzwischen hat auch Berlin einen Tankrabatt und andere Vergünstigungen beschlossen.
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Priorität hat nun die Verringerung der Abhängigkeit von Russland. Das kostet. Aus dem Vorrang für Klimaschutz ist ein Vorrang für sozialen Frieden geworden.
Diesen Stimmungsumschwung kann das Europäische Parlament nicht ignorieren. Die großen Parteifamilien von Mitte-Links bis Mitte-Rechts sind sich einig: Weitere Belastungen würden viele Bürger überfordern.
Im "Trilog" wird der Klimaschutz weiter zusammengestrichen
Sie rupfen nun „Fit for 55“ und nehmen, zum Beispiel, die mühsam erkämpfte Einbeziehung der Privathaushalte in den Emissionshandel wieder heraus. Im „Trilog“-Verfahren – der Einigung auf einen Kompromiss zwischen der Kommission, dem Parlament und dem Rat der nationalen Regierungen – wird weiter am Klimaschutz gestrichen werden.
Diese Entwicklung wird den Konflikt zwischen Klimaschützern und Sozialpolitikern verschärfen. Die Klimaschützer sind erbost, dass erst die Pandemie und nun der Krieg ihr Anliegen in den Hintergrund gedrängt hat, obwohl die Klimaberichte keine Besserung zeigen. Sie fordern eine Verschärfung der Ziele und Maßnahmen.
Auch in der EU sind die Wähler der entscheidende Faktor
Die meisten Regierungen in Europa haben sich für den Gegenkurs entschieden. Die Revolte des Parlaments gegen die Kommission ist eine Mahnung: Alle Macht geht vom Volk aus.
Es genügt nicht, eine mächtige Behörde wie die Kommission von der Notwendigkeit schärferen Klimaschutzes zu überzeugen. Die Wähler sind der entscheidende Faktor. Auch in der EU.
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