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Im Kreml im August 2000: Wladimir Putin (r.) begrüßt Michail Gorbatschow.

© picture-alliance / dpa / Itar-Tass

Kontrapunkt zur Rolle Gorbatschows: Das unterscheidet „Gorbi“ von Putin – und das nicht

Für seine Rolle bei der Einheit dürfen die Deutschen dankbar sein. Die ehrfürchtige Verklärung irritiert jedoch Partner in Europa. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Die Deutschen haben allen Grund, Michail Gorbatschow dankbar zu sein. Als mutige Bürger 1989 in Leipzig, Berlin und anderen Städten auf die Straße gingen, blieben die sowjetischen Panzer in den Kasernen.

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Das kann auch anders laufen, wie Waldimir Putin der Welt gerade vormacht. Weil im Kreml jetzt ein Mann das Sagen hat, der den Verlust an imperialem Einfluss nicht ertragen kann und sein Militär in Schlachten schickt, um ein Kolonialreich zu erzwingen, das längst verloren ist, müssen viele Menschen leiden und sterben.

Als Gorbatschow die Sowjetunion führte, war friedliche Revolution möglich: in Polen, Ungarn, der DDR, der Tschechoslowakei und anderen Staaten des Ostblocks.

Nun, unter Putins Herrschaft, endet Aufbegehren für viele tödlich: in Russland, Georgien, der Ukraine, aber auch bei Mordanschlägen in Westeuropa von Großbritannien bis zum Berliner Tiergarten. Wer die beiden Kremlführer am Ergebnis ihres Tuns misst, wird in Gorbatschow die Gegenfigur zu Putin sehen. Der Eine erlaubte Freiheit in Frieden, der Andere unterdrückt sie blutig.

Michail Gorbatschow, hier mit Helmut Kohl, gehörte zu den Persönlichkeiten, die die deutsche Einheit möglich machten.
Michail Gorbatschow, hier mit Helmut Kohl, gehörte zu den Persönlichkeiten, die die deutsche Einheit möglich machten.

© Soeren Stache/dpa

Diese Sichtweise ist aber nicht Konsens in Europa, wie die Nachrufe, Berichte und Analysen am Tag nach Gorbatschows Tod zeigen. Sie hat eine spezifisch deutsche Note.

In vielen anderen Ländern ist das Bild von ihm vielschichtiger. Und manche Einordnungen ziehen sogar Parallelen zwischen Gorbatschow und Putin.

Im Vergleich wirken viele deutsche Nachrufe wie eine ehrfürchtige Verklärung. Aspekte, die nicht in die Legende vom Friedensfürsten passen, der den Deutschen und Europäern die Befreiung von der Sowjetdiktatur schenkte, werden übergangen. Manche stilisieren „Gorbi“ in einer erstaunlichen Verdrehung der Abläufe zu einem Architekten der heutigen Landkarte Europas.

Gorbatschow wollte die Sowjetunion erhalten, nicht auslösen

Gorbatschow wollte weder das sowjetische Kolonialreich aufgeben noch die Sowjetunion auflösen. Sein Ziel war, das Herrschaftssystem mit Glasnost und Perestrojka so zu reformieren, dass die Sowjetherrschaft an Stärke gewinnt.

In der Dynamik, die zum Sturz der kommunistischen Diktaturen führte und zur Ausbreitung von nationaler Selbstbestimmung und Demokratie in Mitteleuropa, war Gorbatschow nicht die treibende Kraft.

Diese Rolle spielten, zum Beispiel, der polnische Papst Johannes Paul II., der den Polen zurief: „Habt keine Angst!“ Und US-Präsident Ronald Reagan, der Moskau klar machte, dass es ein Wettrüsten nicht gewinnen kann, sondern damit nur die Sowjetwirtschaft ruiniert.

Zu verdanken haben die Deutschen die Einheit der polnischen Gewerkschaft „Solidarnosc“, die mutiger und konsequenter als andere Freiheitsbewegungen die Diktatur unterhöhlte. Und der ungarischen Regierung, die entschied und verkündete, dass an ihrem Abschnitt des Eisernen Vorhangs nicht mehr geschossen wird.

Gorbatschow ließ Proteste blutig niedergeschlagen

1989 blieben die sowjetischen Panzer in Polen und Ungarn, der DDR und der Tschechoslowakei in den Kasernen. Das hat den Bürgern viel Blutergießen erspart. Aber war das eine bewusste Entscheidung Gorbatschows? Oder war es ein passives Geschehen-Lassen? Weil Organisation und Befehlsketten zusammengebrochen waren? Putin, der damals KGB-Offizier in Deutschland war, berichtet, man habe um Anweisungen gebeten. Aber es seien keine gekommen.

Papst Johannes Paul II. und Lech Walesa, erst Anführer der freien Gewerkschaft Solidarnosc, dann Polens Präsident.
Papst Johannes Paul II. und Lech Walesa, erst Anführer der freien Gewerkschaft Solidarnosc, dann Polens Präsident.

© DPA/DPAWEB

An anderen Schauplätzen hat Gorbatschow das Militär eingesetzt, um Proteste niederzuschlagen: Im April 1989 in Georgien, im Januar 1990 in Aserbaidschan, im Januar 1991 in Lettland und Litauen. Das passt nicht zur Legende vom friedensbewegten „Gorbi“.

Und ebenso wenig Gorbatschows Haltung zur Konfrontation mit der Ukraine. Da kulminieren die Parallelen zur Denkweise von Putin. Gorbatschow hat die Annexion der Krim unterstützt und die militärische Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine.

Einige Parallelen zur Denkweise von Putin

Gorbatschow wollte die Sowjetunion nicht auflösen, sondern erhalten. Er ist an diesem Ziel gescheitert. Putin will die Sowjetunion wieder herstellen. Und wird wohl ebenfalls scheitern.Unter Gorbatschow blieb der Einsatz militärischer Gewalt begrenzt. Putin macht von ihr brutalen Gebrauch.

[Lesen Sie auch: Star des Sozialismus – Was Gorbatschow den Ostdeutschen schon vor dem Mauerfall bedeutet hat (T+)]

Zur Dialektik der Wirkungsbeziehungen zwischen den beiden Kremlführern gehört auch: Mit dem Nicht-Eingreifen 1989 hat Gorbatschow dem KGB-Agenten Putin in der DDR die Existenzgrundlage entzogen. Und später hat „Gorbi“ mit seinem Handeln, Unterlassen und Scheitern dazu beigetragen, dass nach den chaotischen Jahren des Machtverfalls unter ihm und Boris Jelzin einer wie Wladimir Putin die Macht an sich reißen konnte.

Ja, die Deutschen dürfen und sollen dankbar in Erinnerung behalten, dass ihnen das Blutbad 1989 erspart blieb. Aber sie sollten dabei nicht verdrängen, dass Gorbatschow in anderen Ländern, die heute EU-Partner sind, tödlich zugeschlagen hat. Wenn Deutsche und andere Europäer allzu unterschiedliche Bilder von der gemeinsamen Vergangenheit haben, ist es schwer, gemeinsame EU-Politik zu machen. Michail Gorbatschow gehört nicht zu den Baumeistern eines freien Mitteleuropas. Er konnte es nicht verhindern. Und dass es so kam, ist gut.

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