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Ohne Michail Gorbatschow wäre die Mauer wohl nicht gefallen.

© Rainer Jensen/dpa

Das Vermächtnis von Gorbatschow: Ja, ein Mensch kann die Welt verändern

Er ließ den Kalten Krieg enden und garantierte eine neue Friedensordnung. Gorbatschow war seiner Zeit voraus - und wurde dann von ihr überholt. Ein Kommentar.

Seinen berühmtesten Satz hat er gar nicht so gesagt: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Michail Gorbatschow, letzter Chef der Sowjetunion und erster Garant einer neuen europäischen Friedensordnung, war seiner Zeit voraus. Und wurde dann – wie die Sowjetunion – von den Zeitläuften überholt.

Einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz wollte er schaffen – ein vergeblicher Rettungsversuch für das vom Kreml diktierte, runtergewirtschaftete Riesenreich. Seine Politik des Wandels hinterließ Osteuropa die Freiheit – und Deutschland die Einheit in Frieden. Ohne Gorbi, wie er liebevoll gerufen wurde, stünde in Berlin das Brandenburger Tor heute nicht der Welt offen.

Ja, ein Mensch kann die Welt verändern – weil er Menschen inspiriert, ihre Welt in die eigene Hand zu nehmen, neu über sie nachzudenken. Gorbatschow, der nun gestorbene Friedensnobelpreisträger, hat Unmögliches ermöglicht und steht in einer Reihe mit Legenden wie Nelson Mandela oder Martin Luther King. Sein Vermächtnis war ein aktives Unterlassen: Er hat den Kalten Krieg friedlich enden lassen.

Das Momentum der Geschichte entstand, weil die Menschen in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und dann auch der DDR auf die Straße gingen für Freiheit und Demokratie – und dabei zumindest hoffen durften, diesmal nicht von sowjetischen Panzern niedergewalzt zu werden. Ein Wagnis mündete in ein Wunder, von Menschen gemacht.

„Ich glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.“ So lautete eigentlich der legendäre Satz von Michail Gorbatschow, gesprochen in Berlin zum 40. Jahrestag der DDR. Ein letzter Gruß an die auch innerlich greise DDR-Führung, die immer noch glaubte, den Drang ihrer Menschen nach Freiheit unterdrücken oder an der Grenze niederschießen zu können. Gut einen Monat später fiel die Mauer und die Menschen fielen sich unter „Gorbi“-Rufen in die Arme.

Russland hat sich von ihm losgesagt - weil es immer noch eine Art Sowjetunion sein will

Die DDR war damit Geschichte. Und auch die Sowjetunion – was in Moskau erst später, aber dann mit voller Wucht ankam. Von dieser Wucht hat sich Russland bis heute nicht erholt, auch weil es unter Wladimir Putin in den alten Imperialismus und die jahrhundertelange Unterdrückung selbstständig denkender und handelnder Menschen zurückgefallen ist.

Das heutige Russland hat die friedliebende, demokratische Ukraine überfallen und sich von Gorbatschow losgesagt - weil es immer noch eine Art Sowjetunion sein will.

Der letzte Kuss vor dem Schluss: Michail Gorbatschow beim traditionellen Bruderkuss mit DDR-Staatschef Erich Honecker.
Der letzte Kuss vor dem Schluss: Michail Gorbatschow beim traditionellen Bruderkuss mit DDR-Staatschef Erich Honecker.

© Wolfgang Kumm/dpa

Zur Wahrheit über den in Deutschland verehrten Gorbatschow gehört: Auch er wollte den Zerfall der Blöcke nicht, sondern das verkrustete Sowjetreich durch Modernisierung retten und es – auch mit Gewalt im Baltikum – zusammenhalten. Die Hochrüstung der USA hatte Moskau in Geldsorgen gestürzt, ebenso die ineffiziente Planwirtschaft. Gleichzeitig trieben die massiven Freiheitsbewegungen, insbesondere in Polen, die Machthaber der sozialistischen Diktaturen in die Enge.

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Gorbatschow war der erste, der die Strukturen aufbrechen wollte, um die Macht der kommunistischen Partei zu erhalten. Dafür ließ er sogar öffentlich über stalinistische Verbrechen diskutieren. Er wollte die Menschen durchs Nachdenken doch noch für den Sozialismus gewinnen. Doch auch ohne nachzudenken war vielen in Mittel- und Osteuropa die Freiheit lieber.

[Lesen Sie außerdem bei Tagesspiegel Plus: Was Michail Gorbatschow den Ostdeutschen schon vor dem Mauerfall bedeutete]

Bis heute kann der Kreml nicht mit dem von Gorbatschow geweckten Menschheitswunsch umgehen. Weil die Ukraine selbst bestimmt leben will, soll sie vernichtet werden. Uns Deutschen zeigt das vor allem, wie fragil die Friedensordnung nach dem.

Kalten Krieg in Europa ist, wenn man sie nicht zu verteidigen vermag. Und welch ein großes Glück wir hatten, die deutsche Einheit noch mit Gorbatschow und den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges über die Bühne zu bekommen, bevor Gorbatschow im eigenen Land von der Bühne der Welt gestürzt wurde.

Das offene Brandenburger Tor in Berlin und ein Europa, das fast vollständig in Freiheit lebt – dies bleibt das Vermächtnis von Michail Gorbatschow über seinen Tod hinaus. Er hat es uns gezeigt: Ja, ein Mensch kann die Welt verändern – zum Besseren.

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