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Konzert-Koffer symbolisieren bei der Demonstration die Existenznot der Veranstaltungswirtschaft.

© Jörg Carstensen/dpa

Viele stehen am Abgrund: Veranstalter, Hotels, Gastronomie und Kultur fürchten um ihre Existenz

Um fünf nach zwölf begann die Demonstration: Tausende machten auf die dramatische Lage aufmerksam.

Der Termin hätte passender nicht sein können: Am Tag, als Kanzlerin Angela Merkel mit den Ministerpräsidenten neue harte Maßnahmen beraten hat, demonstrierten in Berlin Tausende Menschen aus der Veranstaltungsbranche für umfassendere staatliche Hilfen. Viele fürchten um ihre Existenz – gerade wenn es weitere Einschränkungen gibt. Unter dem Motto #OnFire machten die Demonstrierenden am Mittwoch auf die prekäre wirtschaftliche Lage in der Veranstaltungs- und Unterhaltungsindustrie aufmerksam. Mehrere Schlager- und Popstars, darunter etwa Frank Zander und Roland Kaiser, beteiligten sich an dem Umzug und der anschließenden Abschlusskundgebung vor dem Brandenburger Tor. Organisiert wurde der Protestmarsch vom Aktionsbündnis #AlarmstufeRot. Auch der Hotel- und Gaststättenverband Dehoga, der Bundesverband der Deutschen Tourismuswirtschaft sowie weitere Branchenvertreter riefen zur Teilnahme auf.

Welche Branchen sind besonders betroffen?

Es sind nicht ohne Grund Hoteliers, Gastronomen, Reiseveranstalter und Kulturschaffende, die auf die Straße gehen. Der Lockdown im Frühling hat die Unternehmen hart getroffen, die leichte Erholung im Sommer reichte nicht, um sich für erneute Einschränkungen zu wappnen. Die Tourismus-, Gastro- und Veranstaltungsbranchen pochen daher auf Verbesserungen bei den staatlichen Überbrückungshilfen und einen Ausfallfonds für pandemiebedingte Veranstaltungsausfälle. Denn viele Versicherer weigern sich, für coronabedingte Absagen zu zahlen.

Wie steht es um die Tourismusbranche?

Reisewarnungen, Quarantänepflicht und das Chaos um die Beherbergungsverbote haben der Reisebranche und ihren drei Millionen Beschäftigten schwer geschadet. Bis zum Jahresende rechnet der Deutsche Reiseverband (DRV) mit einem Umsatzeinbruch von über 28 Milliarden Euro – einem Minus von 80 Prozent. Mit Ausnahme von Griechenland, Zypern und Malta ist praktisch ganz Europa Risikogebiet. Das Chaos um die innerdeutschen Beherbergungsverbote hat auch vielen Bundesbürgern die Lust auf einen Urlaub in Deutschland vermiest. Dabei gelten Pauschalreisen unter Infektionsgesichtspunkten als eher sicher. Sie hätten zu keiner Zeit nennenswert zu den steigenden Infektionszahlen beigetragen, sagte DRV-Präsident Norbert Fiebig.

Kommen noch Touristen nach Berlin?

Ja, aber viel weniger als sonst. Im Juli und August reisten nur rund die Hälfte der sonst üblichen Besucher in die Hauptstadt, im September waren es allerhöchstens 40 Prozent. Es fehlen besonders die Reisenden aus dem Ausland und die Kongress- und Messebesucher. Darunter leiden vor allem hochpreisige Hotels.

Finden überhaupt noch Messen statt?

Auf Messen treffen sich viele Menschen auf engstem Raum, rund 60 Prozent der Aussteller kommen aus dem Ausland – in normalen Jahren. Doch in diesem Jahr ist ein Großteil der Messen und Veranstaltungen abgesagt oder findet wie die Ifa in Berlin nur in sehr abgespeckter Form und überwiegend digital statt. Auf mehr als 20 Milliarden Euro beziffert der Messe- und Ausstellerverband Auma das bereits aufgelaufene Umsatzminus. In Berlin hat die Messe bereits zwei Drittel des üblichen Jahresumsatzes von 340 Millionen Euro abgeschrieben, den Verlust trägt die Eigentümerin, das Land Berlin. Und es geht so weiter: Die Grüne Woche findet im nächsten Jahr als reine Fachmesse statt, die ITB nur digital, die Verkehrsmesse Innotrans wurde von September dieses Jahres auf April 2021 und jetzt noch einmal auf September 2022 verschoben. Angesichts der steigenden Infektionszahlen und der reduzierten Veranstaltungen ist klar, dass Halle 26 erst einmal Corona-Auffangklinik bleiben wird. In der Halle, die während der Grünen Woche für Hunde und Katzen reserviert ist, stehen Betten für Corona-Patienten, falls diese in den regulären Krankenhäusern nicht mehr untergebracht werden können.

Wie blickt die Gastronomie auf die Debatte?

Restaurantbesitzer sehen sich zu Unrecht an den Pranger gestellt. „Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass die steigenden Infektionszahlen aus unseren Betrieben stammen“, sagte Thomas Lengfelder, Hauptgeschäftsführer des Dehoga in Berlin, dem Tagesspiegel. „Hier fehlt der Nachweis, der unseres Erachtens nicht erbracht werden kann.“ Seine Argumentation wird gestützt von Daten des Robert- Koch-Instituts (RKI). Laut einer Auswertung der Ausbrüche von Covid-19 entfällt nur ein verschwindend geringer Anteil auf Speisestätten. Das Risiko einer Infektion wäre demnach etwa am Arbeitsplatz oder in Pflegeheimen um ein vielfaches höher. Das RKI bittet jedoch darum, die Zahlen „mit Zurückhaltung zu interpretieren“, da der Großteil der Infektionen nicht zurückverfolgt werden kann.

Wie geht die Gastronomie mit den Beschränkungen um?

Sollten Restaurants trotz dieser dünnen Datenbasis schließen, fordert der Dehoga, dass die politisch Verantwortlichen „vollumfänglich“ den Ausgleich des Schadens garantieren. „Kurz gesagt, die komplette Übernahme aller Fixkosten“, so Lengfelder. Andernfalls, so warnt der Verband, dürfte etwa ein Drittel der Betriebe vor dem Aus stehen. Zudem könnte eine Klagewelle auf die Gerichte zurollen. Schon nach dem ersten Lockdown habe es Klagen von betroffenen Wirten gegeben, heißt es vom Dehoga. Es sei damit zu rechnen, dass sich diese Zahl im Falle eines zweiten Lockdowns deutlich erhöht. Unterstützung erhält die Branche vom Mittelstandsverband BVMW. Die Politik dürfe die Pandemie nicht mit Maßnahmen zulasten der Wirtschaft, sondern mit stärkeren Kontrollen der Corona-Verordnungen bekämpfen, sagte er der „Welt“ – notfalls mit stärkeren Sanktionen.

Wie ist die Lage in der Kultur?

„Unser Problem ist nicht der Theaterbesuch“, hatte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller kürzlich betont. Dass die Kultur im November dennoch zum Stillstand kommen soll, schockiert die Szene. Egal ob Staatstheater, Konzertsäle, Kinos oder Museen: Alle sind sich einig, in den vergangenen Monaten verantwortungsbewusste Hygienekonzepte entwickelt und umgesetzt zu haben. „Wir können mit gutem Gewissen sagen: Fast überall außerhalb der eigenen vier Wände ist es riskanter, sich in geschlossenen Räumen aufzuhalten, als in unseren Einrichtungen“, formulieren es die Brandenburger Kulturveranstalter.

Teilnehmer der Großdemonstration des Aktionsbündnis #AlarmstufeRot am Mittwoch.
Teilnehmer der Großdemonstration des Aktionsbündnis #AlarmstufeRot am Mittwoch.

© Kira Hofmann/dpa

Ein erneuter Kultur-Lockdown hätte fatale Auswirkungen. Schon jetzt fallen viele Soloselbstständige durch die Notfallprogramme, die Grünen fordern deshalb eine Neujustierung. Um neuerliche Einnahmeausfälle aufzufangen, müssen Städte und Kommunen die Zuschüsse für ihre Kultureinrichtung erhöhen. Gleichzeitig sinkt in der Pandemie das Steueraufkommen. Die Folge: Die Budgets geraten weiter unter Druck. Ein Teufelskreis mit Spätfolgen, zum Beispiel für die deutsche Filmindustrie angesichts einer ungewissen Zukunft für die Kinos. Kreatives Potenzial droht verloren zu gehen: Komponistinnen und Komponisten werden in diesem Jahr bis zu 80 Prozent weniger Tantiemen aus Liveaufführungen erzielen, prognostiziert der internationale Dachverband der Verwertungsgesellschaften CISAC. Die Forderung an die Politik, hier formuliert von Münchner Ensembles: „Setzen Sie ein Zeichen für die Bevölkerung, dass Ihnen unsere Theater und unser Publikum am Herzen liegen. Wir haben ein Recht auf Kunsträume.“

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