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Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts bei der Urteilsverkündung am Dienstag.

© dpa/Uli Deck

Wie ungerecht ist es, nicht zu strafen?: Warum der Rechtsstaat sogar Mörder schützt

Grundgesetz und Populismus vertragen sich nicht. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Möhlmann-Fall ist ein Aufruf zur Besinnung.

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

Da muss man erstmal schlucken: Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Dienstag steht fest, dass ein mutmaßlicher Mörder von der Justiz unbehelligt bleibt. Es spricht einiges dafür, dass er den Tod der damals 17 Jahre alten Schülerin Frederike von Möhlmann auf dem Gewissen hat. Gewissheit darüber wird es aber wohl keine mehr geben. Dem Karlsruher Urteil zufolge ist es verboten, ihn vor Gericht zu stellen.

Der Grund dafür ist nicht so einfach zu verstehen. Er führt in die Prinzipien des Strafprozesses, die teils noch im römischen Recht verwurzelt sind, und folgt der Einsicht, dass ein Rechtsstaat sich um Gerechtigkeit zwar zu bemühen hat, sie aber sie nicht ohne weiteres herstellen kann. Im Kern geht es darum, was wichtiger sein soll: die Rechtskraft eines abschließenden Strafurteils oder die Gerechtigkeit, die es erlauben soll, das Urteil im Fall eines Irrtums auch zulasten eines Beschuldigten zu korrigieren.

Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

Artikel 103 Absatz 3 Grundgesetz. Laut Verfassungsgericht darf auch niemand mehrmals „verfolgt“ werden.

Möhlmanns möglicher Mörder war vor vierzig Jahren rechtskräftig freigesprochen worden. Weil die damalige Koalition aus SPD und Union die Strafprozessordnung änderte, drohte ihm seit 2021 ein neues Verfahren. Die kriminaltechnische Untersuchung von DNA-Spuren hatte zuvor gezeigt, dass der Freispruch ein Fehlurteil gewesen sein könnte.

Ein gesetzgeberischer Justizirrtum - rechtskräftig korrigiert

Das Bundesverfassungsgericht hat die Änderung nun für nichtig erklärt und damit der Rechtskraft den Vorzug gegeben. Das klingt formalistisch, ist es aber nicht. Wäre das Gesetz geblieben, müsste jeder wegen Mordes Freigesprochene künftig damit leben, dass er jederzeit wieder angeklagt werden könnte.

Das betrifft zwar nur rund zehn Fälle pro Jahr. Bedenkt man aber, dass für manche Angeklagte nicht nur die Unschuldsvermutung gilt, sondern es sich um tatsächlich Unschuldige handelt, die da um ihre Freiheit fürchten müssen, wird klar, was Rechtskraft bedeutet: Dass man als Einzelner darauf vertrauen darf, dass der eigene Fall abgeschlossen ist. Jedenfalls für den Staat mit seinem Monopol auf Strafgewalt. Eine Schicksalsfrage.

Die Relativierung der Rechtskraft ist kein deutscher Sonderweg. Eine Reihe von Staaten verfügen über diese Möglichkeit. In Deutschland wurde es wohl so eng gesehen, weil mit der Rechtskraft von Urteilen stets auch eine Beschränkung der Staatsgewalt einhergeht. Eine Lehre aus der Zeit der Nazis, die ebendies getan hatten: Die Rechtskraft aufgeweicht, um Strafe auch nachträglich noch zu ermöglichen, wenn es das „Volksempfinden“ verlangt.

Leider ist zu konstatieren, dass sich die Politik damals mit einem vergleichbaren Argument daran machte, das Prinzip zu schleifen. „Unerträglich“ sei, dass Möhlmanns Mörder frei herumlief, hieß es. Die „Bild“-Zeitung schrieb sinnfällig: „Schuld sind die Gesetze“.

Das war und ist ein Ausdruck von Populismus, zumal keine weiteren Fälle wie das Möhlmann-Verfahren aufgetaucht sind. Die damals Verantwortlichen in Bundestag und Regierung haben nicht hinreichend bedacht, was sie aufgeben, wenn sie Erträglichkeitsempfindungen zum Maßstab ihrer Kriminalpolitik machen.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist insoweit ein Aufruf zur politischen Besinnung. Das damalige Vorhaben war eine Art gesetzgeberischer Justizirrtum, der jetzt korrigiert wurde. Rechtskräftig übrigens.

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