zum Hauptinhalt
Lars Klingbeil, Parteivorsitzender der SPD, setzt neue Akzente in der Israel-Politik

© IMAGO/Janine Schmitz

Zeitenwende in der Israel-Politik?: SPD-Chef will völkerrechtliche Zweifel am Vorgehen in Gaza ernst nehmen

Lars Klingbeil plädiert dafür, Bedenken im Globalen Süden ernstzunehmen. Der Westen sei auf die Partner dort angewiesen. Moralische Überhöhung helfe nicht. Scharfer Widerspruch kommt aus der Union.

SPD-Parteichef Lars Klingbeil will „erhebliche Zweifel“ daran ernst nehmen, dass Israel bei den Angriffen auf Gaza das Völkerrecht achtet und die Verhältnismäßigkeit wahrt. Bei einer Veranstaltung im Willy-Brandt-Haus sagte Klingbeil am Montagabend: „Israel hat ein Recht auf Selbstverteidigung. Das geht mit der Verantwortung einher, selbst das Völkerrecht zu achten und die Verhältnismäßigkeit des Einsatzes in Gaza sicherzustellen.“ Daran gebe es weltweit „erhebliche Zweifel“, sagte Klingbeil.

Der SPD-Parteichef ergänzte, dass man diese Zweifel auch in Deutschland „klar benennen“ müsse, um sich in der Welt selbst glaubhaft für eine Achtung des Völkerrechts einzusetzen. Klingbeil sagte das während einer Rede über eine neue „Nord-Süd-Politik“, in der es vor allem um mehr Anerkennung für die Sichtweisen der Staaten des globalen Südens ging – und den Versuch einer Neuinterpretation der Rolle des politischen Westens in einer chaotischen Weltlage.

Unter Völkerrechtlern wird über Legitimität der Angriffe längst diskutiert

Der Parteivorsitzende greift mit den Aussagen zu Israel aber auch eine in seiner Partei, in der deutschen Bevölkerung und bei Israels weiteren Verbündeten zunehmend kritische Haltung gegen das Vorgehen im Gaza-Streifen auf. Zuletzt hatte es vergangene Woche in der Bundestagsfraktion eine lange Debatte zur Haltung der Sozialdemokraten zu den Angriffen gegeben.

Viele Sozialdemokraten wünschen sich ein noch stärkeres Engagement ihrer Partei für einen sofortigen Waffenstillstand. Auch unter Völkerrechtlern ist weltweit längst eine Debatte über dessen Legitimität entbrannt. Die Bundesregierung fordert inzwischen deutlich, dass Israel die Menschen nicht länger hungern lässt – und die Flüchtlingsstadt Rafah nicht angreift.

Klingbeil spricht von Eindrücken von Südafrika-Reise

Klingbeil sprach am Montagabend auch unter dem Eindruck seiner Reise nach Südafrika und Ghana. Er berichtete von den Debatten dort, von den Vorwürfen gegen Deutschland. „Das Vorgehen der israelischen Armee in Gaza hat jedoch gerade im Globalen Süden schnell für Empörung gesorgt und der Vorwurf westlicher Doppelstandards wurde laut“, sagte der SPD-Parteichef. „Das ist mir in den Diskussionen auf meiner Afrika-Reise vor zwei Wochen in aller Deutlichkeit begegnet.“

Die Konflikte unserer Zeit lassen sich nur lösen, wenn wir der Perspektive unserer Partner mit Respekt begegnen. Nicht mit moralischer Überhöhung.

Lars Klingbeil, SPD-Parteivorsitzender

Warum verurteile der Westen die Zerstörung ziviler Infrastruktur in der Ukraine, nicht aber in Gaza? Warum rücke Deutschland nicht stärker von Israel ab, bei über 25.000 toten Zivilisten in Gaza, darunter viele Frauen und Kinder? Diese Fragen seien ihm dort gestellt worden. Klingbeil mahnte, diese Perspektiven auch ernst zu nehmen. „Wir müssen nicht in allen Punkten übereinstimmen, wir können harte Debatten führen“, sagte der SPD-Vorsitzende. „Aber die Konflikte unserer Zeit lassen sich nur lösen, wenn wir der Perspektive unserer Partner mit Respekt begegnen. Nicht mit moralischer Überhöhung.“

CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt steht bedingungslos an der Seite der israelischen Regierung.
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt steht bedingungslos an der Seite der israelischen Regierung.

© dpa/Serhat Kocak

Die Union kritisiert die Äußerungen von Klingbeil scharf. Alexander Dobrindt, Chef der CSU-Landesgruppe, war noch Mitte Dezember zu Besuch in Tel Aviv, traf dort Angehörige der Opfer des Terrorangriffs der Hamas. „Das militärische Vorgehen Israel im Gazastreifen ist notwendig, weil das Ziel, die Hamas zu zerstören, erreicht werden muss“, sagte Dobrindt dem Tagesspiegel am Dienstag. Dies gehe unbestritten mit einer schwierigen humanitären Situation einher, „Opfer in der Zivilbevölkerung können nicht gänzlich ausgeschlossen werden“, sagte der CSU-Politiker.

Israel kommt also offensichtlich seiner völkerrechtlichen Verpflichtung, die Versorgung der Menschen in von ihnen besetzten Gebieten sicherzustellen, nicht ausreichend nach

Ates Gürpinar, Linkspartei

Thorsten Frei, Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU im Bundestag, äußerte sich zurückhaltender. Israels Selbstverteidigungsrecht müsse verhältnismäßig ausgeübt werden, sagte Frei dem Tagesspiegel. Frei erklärte aber, er habe nicht den Eindruck, dass Israel gegen völkerrechtliche Standards verstößt. Die Hamas verwende „ihre eigenen Leute als menschliche Schutzschilde“, sagte Frei. „Alles, was wir dort an humanitärer Hilfe leisten, kommt eben nicht nur der Zivilbevölkerung zugute, sondern die Hamas bedient sich ebenfalls“, sagte der CDU-Mann. Die Lage sei sehr komplex.

In der SPD-Fraktion versucht man zu beruhigen: „Lars Klingbeil hat zum Ausdruck gebracht, was sich voll und ganz mit der Linie des Bundeskanzlers und der Bundesaußenministerin deckt“, sagte der außenpolitische Sprecher der Fraktion, Nils Schmid. „Auch US-Präsident Joe Biden hat gegenüber Premierminister Netanjahu seine starken Bedenken gegen eine bevorstehende Bodenoffensive in Rafah hervorgehoben.“

Wagenknecht spricht von Vernichtungsfeldzug der israelischen Armee

Unterstützung für Klingbeils neuen Ton kommt von der Linkspartei. Der kommissarische Bundesgeschäftsführer, Ates Gürpinar, sagte dem Tagesspiegel:„Das Völkerrecht hat wie jeder gesetzliche Rahmen nur dann einen Wert, wenn es grundsätzlich gilt, und nicht nur dann, wenn es einem in den Kram passt.“ Laut der Vereinten Nationen seien mehr als eine Million Menschen in Gaza von einer schweren Hungersnot bedroht, argumentiert Gürpinar. „Israel kommt also offensichtlich seiner völkerrechtlichen Verpflichtung, die Versorgung der Menschen in von ihnen besetzten Gebieten sicherzustellen, nicht ausreichend nach.“

Noch deutlicher wird Sahra Wagenknecht. Die Vorsitzende des BSW sagte dem Tagesspiegel: „Das Vorgehen der israelischen Armee ist längst keine legitime Selbstverteidigung gegen den Terror der Hamas mehr, sondern trägt Züge eines Vernichtungsfeldzugs.“ Wenn die Bundesregierung sich glaubwürdig für die Achtung des Völkerrechts einsetzen wolle, müsse sie sämtliche Waffenexporte an die israelische Regierung stoppen. „Sonst ist ihre Kritik pure Heuchelei“, sagte Wagenknecht.

Die innenpolitische Sprecherin der Grünen, Lamya Kaddor, sagte dem Tagesspiegel: „Die israelische Regierung muss deutlich mehr humanitäre Hilfe über den Landweg nach Gaza lassen, Zivilisten müssen besser geschützt werden – zu viele sind gestorben. Eine Offensive in Rafah stünde in eklatantem Widerspruch dazu. Wir brauchen jetzt einen humanitären Waffenstillstand, um die Geiseln freizubekommen und das Sterben zu beenden.“

Zurück ins Willy-Brandt-Haus: Klingbeil stellte am Montagabend während seiner Rede auch etwas fest, was in Deutschland von Spitzenpolitikern selten ausgesprochen wird: „Die westliche Hegemonie ist lange vorbei“, sagte der SPD-Chef. „Wir werden auch weiterhin wirtschaftlich und politisch einflussreich bleiben. Aber es gibt keine globale Krise, die wir im Westen noch alleine lösen können.“ Es brauche deshalb neue Partnerschaften in der Welt, glaubt Klingbeil.

Klingbeil zitiert dann noch den indischen Außenminister Subrahmanyam Jaishankar. Dieser habe einmal gesagt: „Europa muss aus dem Denkmuster herauswachsen, dass Europas Probleme die Probleme der Welt sind, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme Europas.“ Der Krieg in Gaza und das Massaker der Hamas am 7. Oktober scheinen dafür die denkbar größte Bewährungsprobe.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false