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Die dänische Autorin Madame Nielsen tritt am 17. Mai gleich zweimal in Potsdam auf.

© Erik Brekke

Autorin Madame Nielsen im Interview: „Alles blüht hier! So muss es weiterblühen“

Die Dänin ist Artist in Residence beim Festival Lit:Potsdam. Am Mittwoch hält sie eine „Rede zum Ende der Schulzeit“. Ein Gespräch über Verantwortung, beschwingt von Hoffnung.

Madame Nielsen, Sie verbringen als Writer in Residence von Lit:Potsdam eine Woche in der Stadt. Was verbinden Sie mit Potsdam bisher?
Ich war 2019 und 2020 Stipendiatin des DAAD in Berlin und wohnte am Stuttgarter Platz. Ich habe dort einen Roman geschrieben, der letztes Jahr in Dänemark erschienen ist. An einem Winternachmittag hatte ich etwas in Babelsberg zu tun beim RBB. Dann fuhr ich weiter nach Potsdam und ging eine Stunde oder zwei dort spazieren.

Was haben Sie jetzt hier konkret vor?
Am Tag nach meiner Ankunft, Schlag 12 Uhr, treffe ich mich am Potsdamer Brandenburger Tor mit der schottischen Autorin Nancy Campbell, die Samuel-Fischer-Gastprofessorin für Literatur an der Freien Universität Berlin ist. Wir werden eine klassische Bildungsreise in die Stadt machen, eine Expedition mit Insektensammlung, Kartograf und Zeichner und wahrscheinlich auch ein paar Gepäckträgern. Dann werden wir mit Sonnenhelm und Fernglas eine Expedition ins Potsdamer Herz der Finsternis machen, um endlich mal Potsdam zu kartografieren.

Madame Nielsen will Potsdam kartografieren.
Madame Nielsen will Potsdam kartografieren.

© Frederike van der Straaten

Interessant, dass Sie auf Joseph Conrad anspielen. Sie werden also weniger nach Voltaire suchen, sondern sich eher in die dunkle Vergangenheit eingraben?
Es geht ja um eine Entdeckungsreise, daher wissen wir noch nicht, ob wir Voltaire dort treffen werden. Das wird sich zeigen. Der Ausgangspunkt ist, dass wir nichts wissen. Potsdam ist bislang ein weißer Fleck auf unserer Weltkarte. Aber bald werden wir zwei Potsdamer Expert:innen sein, eine Dänisch Schreibende und eine Englisch Schreibende. Und ich werde den Titel als die neue Potsmadame erhalten.

Was reizt Sie an der Stadt?
Wenn man auf eine Entdeckungsreise ins Unbekannte geht, dann ist das Wichtigste, dass man keine Erwartung hat. Dass man sich allem aussetzt, was passieren könnte. Sich ins Offene bewegt. Ich habe viele Bekannte und Freund:innen in Berlin, die mir gesagt haben: Ah, du bist in Potsdam, dann komm mal nach Berlin! Denen habe ich gesagt: Nein, jetzt bin ich Erforscherin von Potsdam. Ich will in Potsdam verweilen, will mich Potsdam hingeben. Vor allem auf die Potsdamer Jugend und meine Rede freue ich mich.

Am 17. Mai halten Sie die „Rede zum Ende der Schulzeit“. Was mögen Sie darüber schon verraten?
Denis Scheck hat mir gesagt, dass David Foster Wallace 2005 eine solche Rede gehalten hat und mich gefragt, ob ich eine Rede in dieser Tradition halten würde. Mit der Rede von Foster Wallace habe ich mich sehr kritisch auseinandergesetzt. Meine Rede wird kritisch und visionär, eine Rede, die Abschied nimmt. Nicht nur von Foster Wallace und dem amerikanischen Jahrhundert, sondern auch von der amerikanischen Lebensweise, von unserer Lebensweise überhaupt. Ich lege die Verantwortung in die Hände der Jugend. Gleichzeitig wird diese Verantwortung beschwingt von Hoffnung. Ich beschreibe also eine Bürde, aber die soll nicht unerträglich sein. Nur fast unerträglich.

Für mich war es immer schwierig, in der Schule zu sein. Ich wollte alles selber machen. Ich hatte keine Geduld mit den mittelmäßigen Lehrern, ich wollte nur die ganz Großen.

Madame Nielsen, Autorin

Was heißt das: fast unerträglich?
Dass die Verantwortung, die die jungen Menschen heute haben, so groß ist, dass man sie fast nicht ertragen kann. Nur weil die Verantwortung mit dem Vertrauen kommt, dass es zu schaffen ist, wird sie erträglich. Dann kann man das Unmögliche machen. Denn wir sind in einer Zeit, wo wir das Unmögliche machen müssen. Um unsere Lebensform zu verwandeln und das Leben auf diesem schönen Planeten zu erhalten. Alles blüht hier! So muss es weiterblühen. Man muss sich mit Hoffnung in diese Unmöglichkeit stürzen.

Wie haben Sie Ihre eigene Schulzeit empfunden?
Für mich war es immer schwierig, in der Schule zu sein. Ich wollte alles selber machen. Ich hatte keine Geduld mit den mittelmäßigen Lehrern, ich wollte nur die ganz Großen. Und ich wollte, wie der große rumänische Dirigent Sergiu Celibidache, fünf Doktortitel haben. Nicht wie die Deutschen, die haben ja alle fünf. Einen richtigen Doktortitel. Celibidache hatte einen Doktor in Philosophie, Literaturwissenschaft, Musikwissenschaft, Physik und noch einem Fach. Das wollte ich auch. Aber ich hatte keine Geduld mit den Lehrern, daher habe ich mich selbst ausgebildet.

Was für eine Rede hätten Sie als Schulabgänger damals gebraucht?
Ich hätte gebraucht, dass jemand mir und meinen Gleichaltrigen eine große, verpflichtende Hoffnung mitgibt. Dass jemand sagt: Ihr habt die Möglichkeit, unsere Lebensform, die Welt, die Kunst – all das zu verwandeln. Das hat mir niemand gesagt. Man hat zu wenig von mir verlangt.

Heute gibt es Bewegungen wie Fridays for Future. Wird von der heutigen Generation auch zu wenig verlangt?
Das weiß ich nicht. Das muss man die Jugend fragen. Ich glaube, dass sich viele sehr überfordert fühlen. Weil alle so vereinzelt sind. Das sehe ich bei meinen Kindern. Es ist mehr denn je ein Zeitalter des Individuums.

Sie haben eine 24-jährige Tochter und einen 12-jährigen Sohn. Was lernen Sie von ihnen?
Ich lerne, dass sie nicht nur andere Meinungen haben, sondern dass sie die Welt und das Leben auf eine ganz andere Weise wahrnehmen. Es ist beinahe ein Paradigmenwechsel.

Welche Paradigmen ändern sich?
Der Umgang mit den Medien. Wie orientiert man sich, wie geht man mit Technologien um? Aber auch: Woran glaubt man?

Was ist das Wichtigste, was Sie als Elternteil vermitteln können?
Hoffnung sicherlich. Aber ich verlange auch viel von meinen Kindern. Wenn ich mit ihnen zusammen bin, versuche ich die Verantwortung wahrzunehmen, dass ich die Ältere bin und sie meine Kinder sind, dass ich eine Verpflichtung habe, ihnen etwas beizubringen. Aber gleichzeitig versuche ich, dass es spielerisch bleibt, dass wir gemeinsam die Welt erforschen. Auch dass man politisch ist, über alles spricht, ist wichtig. Dass ich Respekt habe gegenüber den politischen Meinungen meiner Kinder.

Haben Sie ein Beispiel?
Sie sind der Grund, dass ich seit einigen Jahren nicht mehr fliege. Sie haben gesagt: Du und deine Generation, ihr habt die Natur kaputt gemacht, jetzt ist es genug.

Und was für einen Bezug haben Sie zum Motto des diesjährigen Festivals? Es lautet: „This too shall pass – Wenn das vorbei ist“.
„This too shall pass“ bedeutet ja etwas ganz anderes! Das ist viel interessanter als die deutsche Übersetzung. „This too shall pass“ heißt: Auch das hier wird irgendwann vorbei sein. Alles ist nur vorübergehend.

Spricht Sie der Gedanke an?
Natürlich! Aber man darf darüber nicht resignieren. Es ist eine Herausforderung: Weil das hier auch vorbei sein wird, müssen wir es wirklich, wirklich zur Entfaltung bringen. Bevor das hier vorbei ist, müssen wir es zum Wunderblühen bringen.

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