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Der Konkurrent aus der eigenen Stadt. Malick Thiaw (links, AC Mailan) und Robin Gosens (Inter) spielen gemeinsam für die deutsche Nationalmannschaft.

© IMAGO/Gonzales Photo

Was die deutsche Nationalmannschaft jetzt braucht: Ein bisschen mehr Gosens wagen

Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft macht eine unerfreuliche Phase durch. Dabei gibt es auch Lichtblicke: die beiden Mailänder Robin Gosens und Malick Thiaw.

Als Rudi Völler Anfang des Jahres zum Sportdirektor des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) ernannt wurde, hat das nicht nur Jubel und Begeisterung hervorgerufen. Das lag vermutlich auch daran, dass in der Öffentlichkeit irrige Vorstellungen über Völlers neue Tätigkeit vorherrschten. Dass er künftig in seinem Büro in der DFB-Akademie kluge Konzepte für die Zukunft des deutschen Fußballs ersinnen würde, das hat ihm schließlich niemand zugetraut.

Aber das hat auch niemand von ihm erwartet. Der DFB braucht Völler für andere Themen. Er braucht ihn für Situationen wie: jetzt.

Das Fußballland befindet sich in Aufruhr, die Nationalmannschaft schleppt sich durch die Etappe. Echte Euphorie will mit Blick auf die Europameisterschaft im Sommer 2024 nicht aufkommen. Und auch die Kritik an Hansi Flick, dem Bundestrainer, schwillt nach der 0:1-Niederlage am Freitag in Polen immer stärker an.

Auftritt Rudi Völler. Sechs Minuten dauert sein Eingangsstatement bei der Pressekonferenz der Nationalmannschaft am Sonntagmittag, und es ist nichts anderes als ein Plädoyer für den Bundestrainer und seine Politik. Flick ist für Völler wahlweise ein „Top-Trainer“, „ein großartiger Trainer“ oder ein „absoluter Top-Trainer“.

Strahlemann. Rudi Völler verbreitete bei der Pressekonferenz am Sonntag Zuversicht in schwieriger Zeit. Dafür ist er da.

© dpa/Jürgen Kessler

Noch Fragen? Ja. Dürfe Flick auch bleiben, wenn er am Dienstag das Spiel gegen Kolumbien (20.45 Uhr, live bei RTL) verliere. Diese Frage habe er erwartet, antwortet Völler. „Die wirft mich auch nicht um: Natürlich wird Hansi Flick Trainer bleiben.“

Begleitet wird Völler von Robin Gosens, 28. Auch das ist vermutlich kein Zufall, denn Gosens kann das ebenfalls: Begeisterung ausstrahlen und Enthusiasmus entfachen. „Ich mache mein fehlendes Talent durch Mentalität und Leidenschaft wett“, sagt der Linksverteidiger des Champions-League-Finalisten Inter Mailand bei seinem Auftritt als Sidekick von Rudi Völler.

Noch mit 18 hat Gosens in seinem Dorfverein gekickt, ohne Aussicht auf eine Karriere als Profi. Doch gerade, weil er ein Spätberufener ist, hat er sich die kindliche Freude am Fußball bewahrt. Manchmal klingt Robin Gosens immer noch wie ein Fan. So wie am Freitag, als er nach der Niederlage in Warschau sagte, es habe ihn „ultragefreut, wieder im Kreis der Natio zu sein“.

Zur zweiten Hälfte war Gosens gegen die Polen aufs Feld gekommen, und dass der Auftritt der Deutschen danach deutlich besser wurde, lag auch an ihm. Gosens löste die taktischen Fesseln, die sich die Mannschaft vor der Pause selbst angelegt hatte; er brachte Zug in die Offensive. Trotzdem konnten die Deutschen die Niederlage nicht mehr abwenden.

20
verschiedene Abwehrformationen bot Flick in 23 Spielen auf.

„Die Lage ist todernst“, sagte Gosens nach dem Spiel. „Wir brauchen Siege, wir müssen das Land hinter uns bringen. Die Heim-EM muss ein riesengroßes Fußballfest werden.“ Im Moment aber fehlt vielen die Fantasie, wie die Stimmung sich ins Positive drehen soll. Der aktuelle Zustand der Nationalmannschaft ein Jahr vor der EM auf eigenem Grund und Boden bietet dazu wenig Anlass. Aber auch in düsteren Zeiten gibt es immer ein Licht der Hoffnung.

Neben Robin Gosens und seinem unbändigen Eifer für die Sache war das gegen Polen vor allem Malick Thiaw. Der Innenverteidiger, 20 Jahre alt, spielte erstmals für die Nationalmannschaft, als zentraler Mann der Dreierkette. „Er war eines der Highlights, wenn man das heute so sagen kann“, sagte Bundestrainer Flick.

Thiaw und Gosens hat der Job beide nach Mailand verschlagen, der eine ist bei Inter angestellt, der andere beim AC, und erst vor wenigen Wochen sind beide im Halbfinale der Champions League aufeinandergetroffen – mit dem glücklicheren Ausgang für Robin Gosens und Inter.

Gosens profitiert vom neuen System

„Als Typ schätzen wir ihn sehr“, hat Joachim Löw, der damalige Bundestrainer, während der EM 2021 über Gosens gesagt. „Er ist sehr, sehr offen, aktiv in der Kommunikation, klar im Kopf und sehr geradlinig. Er ist ein Typ wie sein Spiel.“

Gosens war ein bisschen Löws Entdeckung; bei dessen Nachfolger hingegen hat der offensiv ausgerichtete Linksverteidiger bisher keine große Rolle gespielt. Nur ein einziges Mal stand Goosens unter Hansi Flick in der Startelf – bei dessen Debüt als Bundestrainer im September 2021.

Ein bisschen mehr Gosens – mehr Aktivität, mehr Kommunikation, mehr Geradlinigkeit, mehr Klarheit – könnte der Nationalmannschaft durchaus guttun. Seine kurz- bis mittelfristige Perspektive ist tatsächlich nicht schlecht. Zum einem kommt Gosens das System mit der Dreierkette entgegen. „Er ist ein bisschen der Profiteur der neuen Taktik“, sagt Rudi Völler. Zum anderen ist die Konkurrenz mit David Raum alles andere als übermächtig.

Das gilt auch für Malick Thiaw und die Defensive, die zuletzt eine der größten Problemzonen in Flicks Team war. Der Bundestrainer hat viel versucht. In insgesamt 23 Länderspielen unter seiner Verantwortung hat er 20 unterschiedliche Abwehrformationen aufgeboten – mit überschaubarem Erfolg. Nur dreimal spielte die Nationalmannschaft in den jüngsten 17 Länderspielen zu null: gegen Israel, den Oman und Peru.

Thiaw spielt seit dem Winter regelmäßig

Mit Thiaw hat Flick eine Option hinzugewonnen, die viele vermutlich noch nicht auf dem Zettel hatten. Durch seinen Wechsel vom damaligen Bundesligaaufsteiger Schalke 04 zum AC Mailand vor knapp einem Jahr ist der Innenverteidiger lange ein wenig unter dem Radar der deutschen Öffentlichkeit geflogen – zumal er in den ersten Monaten in Italien kaum zum Einsatz kam. Das hat sich seit dem Winter geändert.

Dass die Serie A eine gute Schule für Verteidiger ist, lässt sich auch bei Thiaw beobachten. „Er ist ein junger Spieler, der auf einem sehr hohen Niveau spielen kann“, sagte Bundestrainer Flick nach dessen Länderspieldebüt. „Sehr solide, sehr reif“ hatte er ihn gegen Polen erlebt.

Thiaw brachte 96 Prozent seiner Pässe an den Mann, gewann drei Viertel seiner Zweikämpfe und dank seiner stattlichen Körperlänge von 1,91 Meter auch sämtliche Luftduelle (drei). „Er hat Persönlichkeit gezeigt“, sagte Thiaws Nebenmann Antonio Rüdiger von Real Madrid.

Rudi Völler hat das alles am Sonntag als Argumente pro Hansi Flick ins Feld geführt. Wenn der Bundestrainer nämlich den öffentlichen Vorstellungen gefolgt wäre, wenn er, wie verlangt, auf Experimente verzichtet hätte und stattdessen schon jetzt ausschließlich seine potenzielle Stammelf der EM 2024 spielen ließe, dann, so Völler, „dann hätten wir den wunderbaren Fußballer Malick Thiaw nicht erleben dürfen“.

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