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200 bis 300 Leute besuchen den ersten Überliner CSD

© Tobias Langley-Hunt

Queerer Stolz in der Kleinstadt : Wie Überlingen seinen ersten CSD feierte

Mehr als 100 CSDs und Pride-Veranstaltungen gibt es in Deutschland, Aufmerksamkeit bekommen meist nur die, die besonders groß sind. Aber auch auf dem Land brauchen queere Menschen Repräsentanz.

Fast scheint es, als gehörten bei CSD-Veranstaltungen immer auch Zaungäste dazu, die durch grimmiges Kopfschütteln signalisieren, dass sie das, was sie da sehen, nicht gutheißen. In Städten wie München, Köln oder Berlin, mit CSD-Teilnehmer:innenzahlen von bis zu 1,5 Millionen Menschen, gehen solche Leute meist unter und entsprechend groß sind die Stolz- und Glücksmomente, die das Gefühl „Ich bin nicht allein, ich bin eine:r von vielen“ bei den Teilnehmenden auslöst. Ein magnetisches Gefühl, das auch abseits von Pride-Monaten den Effekt hat, dass es queere Menschen in die Großstadt zieht.

Wenn ich an das Städtchen denke, in dem ich zur Schule gegangen bin, meine ersten Partys feierte, eigentlich meine ganze Teenager-Zeit verbrachte, fühle ich viel. Stolz- und Glücksmomente sind nicht dabei. Sobald es mir möglich war, bin ich mit nur einem Vorsatz weggezogen: nicht wiederzukommen.

Dabei ist Überlingen am Bodensee ein malerischer Ort. Mittelalterliche Fachwerkhäuser, ein beeindruckendes, spätgotisches Münster und die längste Uferpromenade des drittgrößten, mitteleuropäischen Binnengewässers sind Touristenattraktionen, die auf kleinteiligen bunten Postkarten gut etwas hermachen. Rund 23.000 Menschen leben hier, lassen sich mal von der CDU, mal von der SPD regieren und sind eigentlich Fans von Winfried Kretschmanns Grünen.

Überlingen ist mit einem Irish Pub und einer Handvoll weiterer Kneipen und Bars und mindestens genauso vielen Open-Air Festivitäten, zahllosen Eiscafés und Pizzerien eines der kulturellen Zentren einer ebenso malerischen, leicht hügeligen Region, die sich Bodenseekreis nennt. Wer hier lebt und was erleben will, fährt „in die Stadt“ – nach Überlingen. Queere Orte oder Angebote gab es in meiner Erinnerung nicht.

Die Kleinstadt Überlingen ist das kulturelle Zentrum der Region, die sich Bodenseekreis nennt. Seit diesem Jahr gibt es hier auch einen CSD. Inklusive Wagen.
Die Kleinstadt Überlingen ist das kulturelle Zentrum der Region, die sich Bodenseekreis nennt. Seit diesem Jahr gibt es hier auch einen CSD. Inklusive Wagen.

© Tobias Langley-Hunt

Doch es tut sich was: Durch einen Schulfreund erfuhr ich, dass Überlingen im Jahr 2023 seinen ersten CSD organisiert, queeren Stolz feiern will, also etwas auf die Beine stellt, was ich erst in der Großstadt kennenlernen durfte.

Die Wohnung der Veranstalter dient auch als Vereinsbüro

An einem Freitagabend, eine Woche vor dem großen Tag, ist viel los in Überlingen. Das jährlich stattfindende Stadtfest, auf dem hauptsächlich getrunken wird, lockt tausende Besucher:innen an. Bis auf gedämpfte Musik aus der Ferne, ist davon in der Dachgeschosswohnung von Bernhard Roth und Dennis Michels nichts zu spüren. Auf dem großen Esstisch liegen Flyer, Jutebeutel, Sticker, daneben steht ein Eimer voller Regenbogenflaggen.

Claudia Beier-Rathgeb und Sandra Franz sind auch da, es wird Wein ausgeschenkt und schnell noch etwas gekocht. Michels, Roth, Beier-Rathgeb und Franz sind vier der sieben Gründungsmitglieder des Vereins CSD Überlingen und die Wohnung des Gründers und Vorsitzenden Michels beziehungsweise des stellvertretenden Vorsitzenden Roth dient gleichzeitig als operative Zentrale für das historische Ereignis in einer Woche.

Fünf der sieben nötigen Mitglieder für die Gründung des Vereins CSD Überlingen. Von links nach rechts Sandra Franz, Bernhard Roth, Dennis Michels, Claudia Beier-Rathgeb und Manuel Back.
Fünf der sieben nötigen Mitglieder für die Gründung des Vereins CSD Überlingen. Von links nach rechts Sandra Franz, Bernhard Roth, Dennis Michels, Claudia Beier-Rathgeb und Manuel Back.

© Tobias Langley-Hunt

Den Plan, in Überlingen einen CSD zu veranstalten, gibt es bereits seit über vier Jahren. Wirklich ernst wurde es aber erst in diesem Jahr. Auslöser seien überraschend viele trans Personen gewesen, die als Kund:innen den Friseursalon von Michels und Roth besuchen und sich in der Gegend wohlfühlen. Auch Michels und Roth, die mal ein Paar waren, hätten nie Anfeindungen erlebt. Die Motivation der vier Anwesenden, die Demo zu organisieren, ist unterschiedlich, lässt sich aber mit den Worten von Michels so zusammenfassen: „Wir wollen der Stadt etwas zurückgeben“.

Rund 300 Leute ziehen durch die Kleinstadt

Am Samstag ist es dann endlich so weit: Ich treffe mich mit einer alten Freundin, die aus ähnlichen Gründen wie ich in die Großstadt gezogen ist, was ich allerdings erst Jahre später erfuhr. Sie ist nervös. In ihrer alten Heimat habe sie sich immer gefühlt, als sei sie nur Gast: „Man muss höflich sein, seine Bedürfnisse den Gastgeber:innen anpassen. Man hat kein Recht, Raum einzunehmen“. Heute, offen zur wahren Identität stehend, zurückzukommen und das mit der Teilnahme an einem CSD öffentlich zu bekunden, sei aufwühlend.

Rund 300 Menschen versammeln sich um eine kleinen, bunt behängten Planwagen, laute Musik sorgt für die nötige Aufmerksamkeit. Ein heftiger Regenfall kann den pünktlichen Start nicht verhindern. Etwa eine Stunde braucht der Umzug bis an sein Ziel, den Marktplatz an der Uferpromenade. Kundegebungen und musikalische Beträge runden die Parade ab. Der Bürgermeister sagt ein paar Worte. Die Anwesenden sind ergriffen und froh. Und Überlingen, Dennis Michels, Bernhard Roth, Claudia Beier-Rathgeb und Sandra Franz dürfen stolz sein. 300 Besucher:innen reichen für das so wichtige „Wir-Gefühl“.

Und auch ich bin stolz, auf das Städtchen, in dem ich aufgewachsen bin. Ich überlege mir, ob ich weniger entschlossen weggezogen wäre, hätte ich das in meiner Schulzeit erlebt. Vielleicht. Ein unbehagliches Gefühl werde ich nicht los. Ich fühle mich beobachtet, blicke nach links und nach rechts und die grimmigen Kopfschüttler:innen am Rande fallen mir auf. Umso schöner die Vorstellung, dass viele junge Leute, die ihren ersten CSD in Überlingen feiern konnten, jetzt eine Erinnerung haben – eine Erinnerung, die stark genug macht, nach vorne zu blicken.

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