zum Hauptinhalt
Demonstration am Frauentag 2021 in München

© imago/Alexander Pohl/Alexander Pohl / www.AlexanderPo via www.imago-images.de

Gewalt gegen Frauen: EU-Regierungschefs kippen Norm gegen Vergewaltigung

Die Richtlinie zur Gewalt gegen Frauen ist nach Protest von fünf EU-Ländern entschärft worden. Auch Deutschland steht, so die Kritik aus dem Parlament, „auf der falschen Seite der Geschichte“.

Die EU hat sich über eine neue Richtlinie zur sexuellen Gewalt geeinigt – allerdings eine, die Frauenrechtlerinnen enttäuscht. Der Kompromiss, auf den sich der Europäische Rat, das Parlament und die Brüsseler Kommission am Dienstag verständigten, schreibt nun nicht mehr vor, dass eine sexuelle Handlung ohne ausdrückliches Ja als Vergewaltigung zu sehen ist und überlässt die Definition den Einzelstaaten.

Der jetzige Text macht sie allerdings nicht zu einem in ganz Europa gleichermaßen zu verfolgenden Verbrechen. Die Entscheidung, wie und in welchen Fällen Vergewaltigung vorliegt und bestraft wird, bleibt weiter nationalen Gesetzen überlassen.

Entscheidend für die Verwässerung der Richtlinie, die die EU-Kommission am Frauentag 8. März 2022 lanciert hatte, war am Ende die Opposition im Rat, der Vertretung der nationalen Regierungen.

Neben Ungarn, Polen und den Niederlanden waren auch Deutschland und Frankreich gegen die Konsens-Regel. Sie brachten dafür formale Gründe vor. Im Parlament selbst hatte zuvor die Rechte gegen eine weitgehende Definition von Vergewaltigung Front gemacht.

Ich bin sehr enttäuscht, dass einige Mitgliedstaaten sich entschieden haben, auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen.

Evin Incir, schwedische Gleichstellungspolitikerin im Europaparlament

„Ich bin sehr enttäuscht, dass einige Mitgliedstaaten sich entschieden haben, auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen“ sagte die Schwedin Evin Incir, die im Europaparlament als Berichterstatterin ihrer sozialistisch-demokratischen Fraktion S&D die Verhandlungen geführt hatte.

Sie kündigte wie ihre Kollegin von der konservativen EVP-Fraktion, Frances Fitzgerald, an, dass der Kampf um mehr weitergehe. Der jetzt beschlossene Richtlinien-Text werde „als Sprungbrett dienen, um im nächsten Europäischen Parlament Vergewaltigung aufgrund mangelnden Einverständnisses unter Strafe zu stellen“. Die Wahlen zum EU-Parlament finden im Juni dieses Jahres statt.

Cyber-Stalking wird überall strafbar

Beide lobten die übrigen Inhalte der noch informellen Einigung: So müssen die Mitgliedsstaaten künftig Vorkehrungen treffen, um Vergewaltigung zu verhindern, es gibt strengere Regeln gegen Gewalt im Netz und Vorschriften, Opfern sexualisierter Gewalt besser zu helfen.

Zum ersten Mal gibt sich die ganze EU Regeln, die bestimmte Formen geschlechtsspezifischer Gewalt als kriminell einstufen und denen, die ihre Opfer wurden, den Zugang zu Schutz und zur Justiz erleichtern. Strafbar wird etwa Stalking im Internet oder die Verbreitung intimer und manipulierter Fotos.

5
Länder waren entscheidend für die Entscheidung, Vergewaltigung aus der EU-Richtlinie zu nehmen: Ungarn, Polen, die Niederlande und die beiden größten EU-Mitglieder, Frankreich und Deutschland.

Als strafverschärfend soll künftig gelten, wenn sich die Straftaten gegen Personen des öffentlichen Lebens richten, gegen Menschenrechtsaktivisten oder wenn die Gewalt sich speziell gegen die politische Überzeugung, ethnische oder soziale Herkunft, Religion oder sexuelle Orientierung richtet.

Die Verfolgung von Gewalt aus Gründen der „Ehre“ wird ebenso vorgeschrieben wie die Bestrafung der Genitalverstümmelung von Frauen und zwangsweise Verheiratung. Alle fünf Jahre legt die EU-Kommission dem Parlament einen Bericht darüber vor, ob die Richtlinie sich bewährt hat oder verändert werden sollte.

Italiens Frauen protestieren

Während in Deutschland Frauenministerin Lisa Paus (Grüne) den Kompromiss als „Meilenstein“ rühmte, sprach der Deutsche Frauenrat, die Dachorganisation der deutschen Frauenorganisationen, von einer „fatalen Leerstelle“: „Die Entscheidung des EU-Rats, die Aufnahme von Vergewaltigung in die Richtlinie abzulehnen, ist empörend.“ Für viele andere Formen sexualisierter Gewalt allerdings setze die Richtline „ein wegweisendes Zeichen“.

Stark war der Protest in Italien gegen die gestutzte Richtlinie. Dort hatte im vergangenen Herbst der Mord an der 22-jährigen Giulia Cecchettin durch ihren gleichaltrigen Ex-Freund Hunderttausende Frauen und Männer auf die Straße getrieben. Die feministische NGO „Differenza donna“ reagierte am vergangenen Samstag auf erste Gerüchte über Änderungen am Parlamentstext und startete eine Online-Petition.

Sie erhielt bis zum Mittwoch bereits 80.000 Unterschriften. Dass Europa Vergewaltigung nicht mehr verbindlich als Geschlechtsakt ohne Zustimmung definieren wolle, sei empörend und inakzeptabel, heißt es darin.

„Wir fordern Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Ratspräsident Michel und die Regierungschefs auf, den im Parlament verabschiedeten Text beizubehalten und aus unserem Europa einen Ort zu machen, wo Menschen- und Frauenrechte nicht in Gefahr gebracht werden“.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false