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Bücher im Visier

© dpa/Robert Michael

Sensitivity Reading: Jetzt wird auch die deutschsprachige Nachkriegsliteratur des Rassismus verdächtigt

Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ dürfte nicht der einzige Roman bleiben, dem eine diskriminierende Sprache vorgeworfen wird.

Die Aufregung war groß, als zuletzt die Romane des britischen Jugendbuchautors Roald Dahl und kurz darauf jene des ebenfalls aus Großbritannien stammenden „James-Bond“-Erfinders Ian Fleming von ihrem Verlagen einem „Sensitivity Reading“ unterzogen und in Neuauflagen dementsprechend geändert wurden. Will heißen, positiv ausgedrückt: Es gab eine zeitgemäße Anpassung im Hinblick auf rassistische, frauenfeindliche oder homophobe Sprache. Könnte aber auch heißen, wenn man damit ganz und gar nicht einverstanden ist: Zensur von Kunstwerken.

Nun gibt es diese Debatte um das „Sensitivity Reading“ schon geraume Zeit, da ging es um nachträgliche Änderungen in Büchern von Otfried Preußler oder Astrid Lindgren, um Karl-May-Coverversionen für Kinder, die vom Markt zurückgezogen wurden. Nur bewegte sich all das größtenteils im Bereich der Kinder- und Jugendbuch- oder Genreliteratur, wie im Fall Fleming.

Was ist mit Uwe Johnsons „Jahrestagen“?

Der Streit um Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ eröffnet eine neue Dimension. Tatsächlich stößt man darin gleich zu Beginn auf das „N-Wort“. Koeppens Roman dürfte nicht der einzige bleiben, der nun näher inspiziert und womöglich einer diskriminierenden Sprache angeklagt wird. Zum Beispiel Uwe Johnsons „Jahrestage“: Die sind in Mecklenburg-Vorpommern und in New York City angesiedelt, der erste Band erschien 1970.

Auch hier steht schon auf der ersten Seite die diffamierende Bezeichnung für Schwarze, und so geht es weiter. Nur ist es bei Johnson wie bei Koeppen, jenseits des zeithistorischen Kontextes: Das Bewusstsein für die Problematik des Rassismus meint man jedes Mal zu spüren, oft werden Schwarze und Juden in einem Atemzug genannt.

Und wie ist es bei Böll oder Bachmann, bei unbekannteren Autoren wie Dieter Forte oder Hans Erich Nossack, in Übersetzungen wie der von Prousts „Recherche“, in der auch das „N-Wort“ vorkommt? Wer sucht, wird finden – und sich womöglich verletzt fühlen. Man muss kein Prophet sein, um zu sehen, dass die Debatte weiter Kreise ziehen wird. Die mutmaßliche Diskriminierung ist das eine, das literarische Werk im Kontext seiner Entstehung und mit seiner Botschaft das andere. Doch ein Umschreiben etwa der Literatur der Nachkriegszeit kann nicht die Lösung sein.

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