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© Imago/Jacob Schräter

Tatort Sonneberg: Die Stadt von Tankred Dorst

Ein bürgerliches Trauerspiel: Die AfD stellt in einer Region in Thüringen erstmals einen Landrat. Dabei ist Sonneberg auch ein Ort der neueren Literaturgeschichte.

Ein Kommentar von Peter von Becker

Ein beschauliches Städtchen, an der thüringisch-fränkischen, bis zur Wende auch innerdeutschen Grenze. Noch vor gut hundert Jahren war Sonneberg ein Weltzentrum der Kinderspielzeugherstellung, vor hier bezogen selbst die kleinen Amerikaner lange Zeit ihre Weihnachtsgeschenke.

Noch immer zeugt davon das neobarocke Deutsche Spielzeugmuseum. Doch spätestens seit vergangenem Sonntag gilt das 25000-Einwohnerstädtchen nicht mehr nur als Stätte sonniger Spielerei.

Sonneberg ist freilich auch ein Ort der neueren Literaturgeschichte. Dort wurde vor fast hundert Jahren Tankred Dorst geboren, der (trotz Heiner Müller) größte deutsche Dramatiker seit Brecht.

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Gegen Ende des Hitler-Kriegs wurde der Oberschüler Tankred noch eingezogen, geriet bald in amerikanische Gefangenschaft und kehrte erst 1947 zurück aus einem Lager in den USA.

Idylle als Schein

Da war die väterliche Maschinenfabrik zur Porzellanherstellung in Sonneberg bereist von den Russen enteignet worden und die Familie in den Westen geflohen. Aber die Kindheits- und Jugenderinnerungen an Sonneberg durchgeistern auf fast Proust’sche Weise etliche Stücke, Prosabände und die Kinofilme von Tankred Dorst.

Schauplätze und Stücktitel wie „Die Villa“ oder die in mehreren Dort-Werken auftauchende Fabrikantengattin (und feinschichtige Frauengestalt) Dorothea Merz samt ihren Söhnen, in denen sich Züge des Autors finden, sind Spiegelbilder der deutschen Vor- und Nachkriegsgeschichte. Bevölkert von Sozialisten und anderen Idealisten, von Träumern und, je nach den Verhältnissen, auch ganz Abirrenden. In der ländlich-kleinstädtischen Region ist die Idylle bei Dorst oft eine Täuschung.

Idylle als Schein, das galt allerdings schon für die Zeiten des Sonnebergischen Spielzeugbooms. Die schönen Kindersachen wurden meist (auch) von Kindern in bedrückend ärmlicher Hausarbeit hergestellt. Viele Sonneberger waren keine Fabrikarbeiter, sondern mit Hungerlöhnen bezahlte Heimwerker, die Töchter und Söhne mussten zum Überleben mithelfen, statt zur Schule zu gehen.

Nirgends in Deutschland herrschte so große Bildungsnot. Verhältnisse, die die Sonneberger erst zu den Sozialdemokraten oder Kommunisten trieben, dann im Zuge der Weltwirtschaftskrise in den 1920ern immer mehr zu den Nazis. Wie überall in jenem Land rund um Weimar und Buchenwald.

Es ist der Schoß, aus dem es heute kriecht. In Zeiten freilich, wo dort durchaus neuer Wohlstand wächst. Wo sie in Sonneberg den 2017 verstorbenen kosmopolitischen Dichter Tankred Dorst zuvor noch zu ihrem Ehrenbürger gemacht haben. Viel bürgerliches Trauerspiel.

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