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Alltagsszenen aus Charkiw: Ein Mädchen fährt auf einem Roller die Straße herunter, ein Mann füttert Tauben.

© dpa/Bram Janssen

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (163): Im Herzen liegt Charkiw bei Berlin

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Von Yuriy Gurzhy

13. August 2023 

In den Kommentaren zu meinem Bild vom Charkiwer Bahnhof auf Instagram schrieb jemand „Willkommen zuhause“. Normalerweise versuche ich, nicht darüber nachzudenken, da es eigentlich nie zu einem klaren Ergebnis führt. Diesmal jedoch konnte ich nicht anders und musste wirklich nachdenken: Wo genau liegt mein Zuhause? 

Keine Ahnung, ob es eine eindeutige Antwort darauf geben kann. Rein technisch gesehen – mittlerweile lebe ich seit 28 Jahren in Berlin, das sind acht Jahre mehr als in Charkiw. Ich besitze einen deutschen Pass. Die Wohnungen, in denen ich mit meinen Eltern und meinen Großeltern lebte, wurden bereits 1995 verkauft.

Und doch in Charkiw kenne ich mich nach wie vor besser aus als in den anderen Städten der Welt. Die Hilfe von Googlemaps beanspruche ich hier nur, wenn ich feststelle, dass mir die neuesten Straßennamen nichts sagen – und das kommt immer wieder vor. Abgesehen von Berlin gibt es keinen anderen Ort, an dem ich so viele Freunde habe. Die meisten von ihnen kannten mich, bevor ich nach Deutschland gezogen bin. Hier verharre ich für immer im Alter von zwanzig Jahren – so alt war ich, als meine Familie und ich Charkiw verlassen haben.

Alltag in Charkiw: zerbombte Häuser, Luftangriffe

Jedoch im Studio, wo ich zurzeit täglich Charkiwer Musiker*innen aufnehme, fällt mir irgendwann auf, dass sie alle jünger sind als ich. Dennoch sprechen wir dieselbe Sprache, und es gibt keine Distanz zwischen uns – wir verstehen uns gut. Obwohl wir zusammen viel lachen und musikalisch reibungslos arbeiten, ist mir bewusst, dass meine ukrainischen Musikerkolleg*innen in ihrem Alltag etwas erleben, was ich mir nicht mal vorstellen kann.

Ihre Freunde und Verwandten befinden sich an der Front, zerbombte Nachbarhäuser und tägliche Luftangriffe sind Teil ihrer Realität. Dennoch wollen sie sich nicht von diesen Umständen beherrschen lassen. Ich bewundere sie!

Die Schlange vorm Buchladen in Charkiw, in dem Serhij Zhadan liest.

© Yuriy Gurzhy

Mit den prächtigen Choraufnahmen ging unsere Arbeit im M-Art Studio heute zu Ende. Aktuell ist der Tontechniker Oleksii damit beschäftigt, die Dateien zu ordnen und hochzuladen, im nächsten Schritt werden sie editiert und gemischt. Ich packe meine Habseligkeiten zusammen, die ich in den vergangenen Tagen im Raum verteilt habe – Wasserflaschen, Ladegeräte und das Buch von Hryhorij Skovoroda. 

Plötzlich fällt mein Blick auf ein rotes T-Shirt mit dem Logo von Charkiw-Stahlbeton – und mir fällt wieder ein, dass ich es Serhij Zhadan überreichen sollte. Serhij, der unter permanentem Zeitdruck steht, war zwar öfter im Studio, doch wir hatten immer so viele Themen, dass ich das Shirt schlichtweg aus den Augen verloren habe. Aber um 16 Uhr, meinte er heute früh, habe er eine Autogrammstunde bei der Eröffnung einer neuen Buchhandlung. Ich schaue auf die Uhr, nehme das T-Shirt mit und laufe dahin.

Eine Konzert-Tour Tour durch die Ukraine.

Der neue Buchladen hat seinen Standort in der Sumska Straße und liegt lediglich einen Block entfernt vom Hochzeitspalast. Dieser Block ist gerade besonders belebt – eine Warteschlange, die bei mir einen leicht surrealen Eindruck hinterlässt. Letztmalig habe ich derartige Szene im Jahr 1987 gesehen. Zu jener Zeit musste man stundenlang in der Schlange ausharren, um Bananen zu ergattern – etwas absolut Exotisches für das Charkiw der 1980er Jahre.

Heute sind Bananen problemlos in jedem Supermarkt erhältlich, und die gegenwärtige Schlange ist eine Ansammlung von Menschen unterschiedlichen Alters, die zur Autogrammstunde von Zhadan möchten. In ihren Händen halten sie nicht nur seine Bücher, sondern auch Blumen und sogar Plüschtiere. In seiner Heimatstadt ist Zhadan zweifellos ein Superstar!

Um die Aktion nicht zu stören, kehre ich kurz vor 18 Uhr zurück. Zu diesem Zeitpunkt sind nur noch fünfzehn Fans übrig. Serhij ist ersichtlich erschöpft, jedoch steht ihm direkt ein weiterer Termin bevor. Er wurde eingeladen, Teil der Jury bei einem Clubkonzert junger Bands zu sein, das unmittelbar beginnen sollte. „Komm doch mit, wir haben noch Platz im Auto“, bietet er an, aber ich muss passen. In wenigen Stunden muss ich den Zug nach Kiew nehmen. Allerdings steht unser nächstes Treffen bereits im Oktober an – zu diesem Zeitpunkt wird unser Album fertiggestellt sein, und wir werden damit auf Tour aufbrechen. Durch die Ukraine.

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