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© Tagesspiegel / European Focus

European Focus #2: Wie Europa sich für den Kriegswinter rüstet

Campingvorbereitungen: Reiseziel Freiheit +++ Frankreichs „Stromvorhersage“ +++ Zahl der Woche: 1000 +++ Polens Kohleproblem +++ Südlicher Wind of Change

Hallo aus Skopje,

Sind Sie bereit für den Winter? Ich spreche hier nicht von den Skiausflügen, sondern von Temperaturen unter null, von steigenden Energierechnungen, von Stromausfällen und der Aussicht, außer Stande zu sein, die eigene Wohnung zu heizen.

Viel wurde gesagt über die Energieerpressung durch den Kreml und die herausfordernden Monate, die vor uns liegen. Aber so kurz vor dem Winterbeginn wird das Thema für viele Europäer und Europäerinnen unausweichlich real.

Und so war es unvermeidbar, dass es bei unserem wöchentlichen europäischen Redaktionstreffen auf den Tisch kam, wo mich vor allem eine Bemerkung getroffen hat: „Für uns ist es eine Frage von Leben und Tod, buchstäblich eine Frage des Überlebens“, sagte unser ukrainischer Kollege. Das bringt einen zum Nachdenken, oder?

Sich um höhere Energierechnungen zu sorgen ist nicht das Gleiche wie die Sorge um das eigene Leben und das der Familienmitglieder, während man mitten im Krieg versucht Kerzen zu horten.

Aber während Moskau sich äußerste Mühe gibt, uns in Angst und Kälte zu versetzen, müssen wir einen Weg finden zu einer besseren, nachhaltigeren Energiezukunft. Das ist eine große Aufgabe und manche Länder sind hier schon weiter als andere. Aber unsere gemeinsame Zukunft hängt davon ab.

Siniša-Jakov Marusic, Chefredakteur dieser Newsletter-Ausgabe

Camping-Vorbereitungen, Reiseziel Freiheit

Welches Heizgerät soll ich wählen – Elektro oder Gas? Wie viel kosten Solarpanels für den Balkon? Reichen drei Powerbanks aus? Sollte ich mir Thermokleidung zulegen oder nur eine weitere Schicht anziehen? Das sind Fragen, die mir derzeit durch den Kopf gehen, genauso wie Millionen anderen Ukrainerinnen und Ukrainern.

Wir fragen uns, ob unsere Armee im Winter Erfolge verzeichnet und ob der Nachschub an modernen Waffen fortgesetzt wird. Eines ist aber sicher: Der Kreml wird alles daran setzen, der Ukraine einen möglichst dunklen, möglichst kalten Winter zu bescheren, sei es durch weitere Raketenangriffe oder durch das Hacken unserer Systeme und Anlagen.

Ich weiß, wie sich das anfühlt. Seit 2014 haben russische Hackerangriffe immer wieder zu Stromausfällen in unterschiedlichen Teilen meines Landes geführt. So suche ich jetzt online nach allem, was ich noch kaufen könnte, um die kommende Zeit gut zu überstehen.

Das Kalkül Russlands ist klar: ein harter Winter und hohe Gaskosten könnten Europa dazu bewegen, den Bedingungen Moskaus zur Beendigung dieses Krieges zuzustimmen. Gleichzeitig sollen Stromausfälle und bittere Kälte die Ukrainerinnen und Ukrainer erschöpfen und den Wunsch nach einem Ende dieses Alptraums nähren.

Eine Gasflamme brennt an einem Herd.
Eine Gasflamme brennt an einem Herd.

© DPA

Allerdings kenne ich niemanden, der ans Aufgeben denkt. Aktuell geht es beim Kerzenkaufen in der Ukraine nicht um Behaglichkeit oder Romantik. Kerzen sind eine Überlebenshilfe, eine Lichtquelle – ganz wie vor 200 Jahren.

Die Gaspreise machen mir keine Sorgen; ich frage mich, ob ich überhaupt Gas zur Verfügung haben werde. Ich bin dem Rat einer beliebten Broschüre zur Krisenvorbereitung gefolgt und habe Streichhölzer, einen tragbaren Gaskocher und mehrere Gaskartuschen gekauft. Es fühlt sich fast nach einem Campingtrip an. Doch anstatt in den Bergen oder im Wald findet das Camping dieses Jahr in meiner Wohnung statt. Immerhin ist das Ziel der Reise klar: Unsere Freiheit.

Anton Semischenko ist Redakteur bei der englischsprachigen Version der Nachrichten-Website babel.ua aus Kiew.

Frankreichs „Stromvorhersage“

Bis vor ein paar Wochen hatten nur wenige Menschen in Frankreich von der Website Ecowatt gehört, die von der französischen Regierung finanziert wird. Mit dem kommenden Winter könnte diese „Strom-Wettervorhersage“ jedoch ein hilfreiches und beliebtes Tool werden.

Ich habe mich kürzlich angemeldet, wie viele andere hierzulande auch. Über die Website oder per SMS warnt Ecowatt die Verbraucher vor möglichen Stromausfällen und gibt ihnen somit Zeit, Haushaltsgeräte auszuschalten, um den Verbrauch zu senken und solche Unterbrechungen zu vermeiden.

Aus den allseits bekannten Gründen steigt das Risiko von Stromausfällen derzeit. Dank des milden Wetters bin ich bisher noch nicht gewarnt worden. Es bleibt abzuwarten, was im Winter passiert.

Julien Lecot ist Journalist mit Fokus auf internationale Nachrichten und soziale Themen bei Libération in Paris.

Zahl der Woche: 1000

Im Rahmen eines 1,6 Milliarden Euro schweren Plans zur Abkopplung der baltischen Staaten vom russischen Stromnetz bis 2025 würden Estland, Lettland und Litauen derzeit noch mindestens 1000 weitere Tage benötigen, um wirklich unabhängig von russischem Strom zu werden.

Ein Anschluss an das „kontinentaleuropäische Verbundsystem“ könnte zwar schon früher möglich sein. Das Risiko von Stromausfällen und höheren Stromrechnungen würde jedoch bestehen bleiben, da die derzeitige Infrastruktur noch nicht für einen reibungslosen Umstieg bereit ist.

Die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas spricht zu Journalisten in Prag.
Die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas spricht zu Journalisten in Prag.

© Foto: AFP/ MICHAL CIZEK

Es steht viel auf dem Spiel: die baltischen Staaten wollen nicht hinnehmen, dass Russland seine Energielieferungen als Waffe einsetzen kann. In der vergangenen Woche sah sich die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas veranlasst, vor Stromausfällen zu warnen, sollte Putin entscheiden, die Verbindung zu den drei Ländern zu kappen.

Herman Kelomees ist Journalist bei Delfi in Tallinn und berichtet hauptsächlich im Ressort Politik.

Polens Kohle-Problem

Während man in Westeuropa über erneuerbare Energien debattiert, klammert sich Polen an die Kohle .Sie ist die wichtigste Energiequelle des Landes. Kohle wird nicht nur zur Stromerzeugung verwendet, sondern auch von tausenden Haushalten verbrannt, um die Winterkälte zu vertreiben. Die Versorgung mit Kohle war nie ein Problem. Bis jetzt. 

Für die Regierung unter der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) war und ist Kohle ein Fetisch. Die Kohlebergleute genießen einige der großzügigsten staatlichen Subventionen des Landes. Um die Bergbaulobby gnädig zu stimmen, hat die Regierung die Erschließung von Windparks unterbunden.

Forderungen von Umweltschützern, Polen solle die Warnsignale in Sachen Klimawandel ernstnehmen, wurden von PiS-Politikern als angeblich linke Propaganda abgetan. Studien, die aufzeigen, dass die Luftverschmutzung jedes Jahr tausende Todesopfer in Polen fordert, wurden ignoriert.

Nach Ansicht von Präsident Andrzej Duda habe Polen genug Kohle für weitere 200 Jahre. Tatsächlich aber hat die Regierung, während sie einen Kotau vor der Bergbaulobby machte, im Stillen viele Bergwerke geschlossen. Der Grund dafür: Importe aus Russland und dem russisch besetzten Donbass – unter Missachtung eines EU-Embargos – waren günstiger.

Der polnische Präsident Andrzej Duda spricht bei der UN-Vollversammlung.
Der polnische Präsident Andrzej Duda spricht bei der UN-Vollversammlung.

© Foto: AFP/ ANGELA WEISS

Sechs Wochen nach der russischen Invasion der Ukraine, am 14. April 2022, veranlasste die polnische Regierung ein Embargo gegen russische Kohleimporte. Damit fingen die Problem an. Die einst vollen Kohlelager leerten sich, die Preise schossen in die Höhe. Noch im Juni beteuerte die Regierung gegenüber der Bevölkerung, es bestehe kein Grund zu Panikkäufen. Man gab sich zuversichtlich, der Preis werde wieder fallen.

Inzwischen ist jedoch das genaue Gegenteil eingetreten. PiS-Chef Jarosław Kaczyński ruft die Polinnen und Polen nun auf, weniger zu verbrauchen sowie ruhig und geduldig auf Nachschub zu warten. Die Regierung hat bereits Nachschub aus Südamerika bestellt, es ist jedoch unklar, ob dieser rechtzeitig zum Winter eintreffen wird. Bezüglich der Qualität der importierten Kohle gibt es ebenfalls Zweifel.

Europa dürfte ein harter Winter bevorstehen; für Polen gilt dies ganz besonders. Bereits im November 2021 hatten die USA gegenüber Warschau gewarnt, eine russische Invasion [in der Ukraine] stehe unmittelbar bevor. Die polnische Regierung hatte somit mehr als vier Monate Zeit, sich vorzubereiten und der drohenden Kohleknappheit entgegenzuwirken. Getan hat sie das nicht.

Bart Wieliński ist stellvertretender Chefredakteur der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza.

Südlicher Wind of Change

Die gegenwärtige Energiekrise ist eine europäische Krise. Im Vergleich zur Finanzkrise von 2008 zeigt sich jedoch ein gänzlich anderes Bild: Während Deutschland zuvor als „Oberlehrer“ auftrat und den Portugiesen, Italienern, Griechen und Spaniern Vorträge über deren finanzpolitische Unverantwortlichkeit hielt, spürt man die Auswirkungen der Energiekrise in Berlin nun sehr viel stärker als bei den südlichen Nachbarn. 

Deutschland befeuerte sein Industrie- und Wirtschaftswachstum mit billigem russischem Gas. Dabei wurde offensichtlich wenig über die Sicherheitsrisiken – nicht nur für Deutschland selbst – nachgedacht. Wer handelt jetzt eigentlich „unverantwortlich“?, könnte man fragen.

Im Gegensatz dazu hat Spanien Weitsicht bewiesen, indem es trotz der höheren wirtschaftlichen Kosten in einen stärker diversifizierten Energiemix investierte .Während noch vor wenigen Monaten der spanische (und von Portugal und Italien unterstützte) Vorschlag, den europäischen Energiemarkt radikal umzugestalten, von einigen – mit all ihren Hierarchie-Reflexen – als „weltfremd“ abgetan wurde, scheint es nun endlich einen Wind of Change aus Richtung Süden zu geben: ein am spanischen Original orientierter „Gaspreisdeckel“ wird wohl auch im Rest der EU Realität. 

Natürlich ist eine solche Reform ein langfristiges Projekt. Im anstehenden Winter muss es noch die Möglichkeit für pragmatischere und kurzfristigere Optionen geben; namentlich für Gas oder Kohle aus den Vereinigten Staaten, Norwegen und Aserbaidschan.

Doch so wie die Covid-Pandemie den Bruch einiger vormals unumstößlicher „Mantras“ ermöglichte, stellt die verspätete Einsicht, dass Energie eine Frage der europäischen Sicherheit ist, nun eine historische Chance dar, auf nachhaltigere Wege zur Gewährleistung dieser Sicherheit zu drängen.

Mit Blick auf die Zukunft bedeutet dies hoffentlich, dass wir zukünftig einen besser entwickelten Energiemix mit mehr erneuerbaren Energien in ganz Europa anstreben – und zwar gemeinsam.

Alicia Alamillos ist Journalistin mit Schwerpunkt Internationale Nachrichten bei El Confidencial in Madrid.

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