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Die Wahlen in der Türkei könnten für einen Machtwechsel sorgen.

© Action press/Zuma Wire/Depo Photos

Junge Wähler in der Türkei: „Ich möchte jemand Neuen an der Spitze sehen“

Die Jugend in der Türkei ist polarisierter denn je. Die einen sind den Konservatismus leid, die anderen fürchten ein Kopftuchverbot. Vier von ihnen erklären ihre Wahlentscheidung.

„Seit ich mich erinnern kann, ist die AKP an der Regierung. Ich möchte jemand Neues an der Spitze sehen“, sagt Zeyneb. Sie ist Türkin, lebt in Ankara und studiert Türkische Sprachen und Literatur. „Ich möchte auch ein freieres und glücklicheres Leben haben. Deswegen geht meine Stimme an Kemal Kılıçdaroğlu.“

Der Vorsitzende der kemalistischen Partei CHP und einziger oppositioneller Präsidentschaftskandidat gilt als Hoffnungsträger, der Präsident Recep Tayyip Erdoğan nach 20 Jahren aus dem Amt drängen könnte. Das hofft auch Zeynep. Die 20-Jährige wird in diesem Jahr zum ersten Mal wählen können.

Zeyneb gehört zu den 6,5 Millionen jungen Menschen, die Schätzungen der türkischen Forschungsstiftung TÜSES zufolge am 14. Mai bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen der Türkei ihre Stimme abgeben werden.

Wenn wir zusammenkommen, geht es ständig um die wirtschaftliche Situation. Über soziale Aktivitäten können wir schlecht sprechen, wenn wir keinen nachgehen können.

Zeyneb, Studentin in Ankara

Viele von ihnen sind zwar Erstwähler:innen, doch wurden schon früh politisiert: Als Jugendliche haben sie die Gezi-Proteste erlebt, 2016 einen Putschversuch, immer wieder Militäroffensiven in Nordsyrien – und zuletzt die schweren Erdbeben, die laut Kritiker:innen ein staatliches Versagen in der Baupolitik offenbart haben.

Aus ihren politischen Haltungen machen die Jüngeren keinen Hehl, sie sind sicht- und hörbar. Das merken auch die Parteien, die um die Stimmen der jungen Generation werben.

Im Vergleich zu ihrer Vorgängergeneration sind für die jungen Menschen in der Türkei vor allem Selbstverwirklichung und die dafür notwendigen wirtschaftlichen Möglichkeiten Themen, die sie antreiben. Auch verstehen viele ihren Glauben als Privatsache, sie wollen sich nicht mehr der staatlichen Gängelung im Namen der Religion beugen. Sie wollen eine grundlegende Veränderung.

Kino- und Konzertbesuche sind zu teuer

Politik sei in ihrem Freundeskreis und ihrer Familie immer ein Thema gewesen, schon vor den Wahlen, sagt Zeynep. „Wenn wir zusammenkommen, geht es ständig um die wirtschaftliche Situation. Über soziale Aktivitäten können wir schlecht sprechen, wenn wir keinen nachgehen können.“ Kino sei zu teuer, Konzerte könne sie sich nicht leisten, also bleibt nur, sich mit den Ursachen dafür auseinanderzusetzen.

In erster Linie stehe für die junge Wählerschaft die ökonomische Krise auf der Agenda, sagt Hürcan Aslı Aksoy, stellvertretende Leiterin am Zentrum für Angewandte Türkeistudien in Berlin, dem Tagesspiegel. „Sie schauen auf die Parteien, die ihnen Lösungen gegen Armut, Unsicherheit in der Arbeitswelt und Perspektivlosigkeit bieten.“

28
Prozent der jungen Menschen in der Türkei sind mit ihrem Leben unzufrieden.

Die hohe Inflationsrate, die aktuell über 50 Prozent liegt, Arbeitslosigkeit und die damit verbundenen Zukunftsängste spiegeln sich auch in den Umfragewerten, die das türkische Forschungsunternehmens Konda ermittelt hat. Demnach sind 28 Prozent der jungen Menschen in der Türkei nicht zufrieden mit ihrem Leben.

Junge Wähler:innen seien zudem im Vergleich zu anderen Altersgruppen weniger religiös, sagte Wissenschaftlerin Aksoy. Während der Anteil der Atheisten und Konfessionsfreien im Land insgesamt fünf Prozent beträgt, steigt dieser Anteil bei den Erstwähler:innen auf elf Prozent.

Konservative bilden mit 65 Prozent zwar die größte Gruppe in der gesamten Wählerschaft, doch unter den Jüngeren sind bis zu 45 Prozent der Wähler:innen eher links-liberal eingestellt. Auf ihre Stimmen kann Erdoğan wohl nicht zählen, dafür aber sein Kontrahent Kılıçdaroğlu, der unter den jungen Wähler:innen immer mehr an Beliebtheit gewinnt.

Aber es gibt auch noch junge Wähler:innen, die „konservativ und stolz darauf“ sind – so wie Rümeysa Yılmaz. Die 20-jährige gläubige Muslima aus Istanbul ist vor allem besorgt, dass es bei einem Machtwechsel zu Einschränkungen beim Tragen des Kopftuchs kommen könnte.

Sie fürchtet eine Rückkehr in die Politik der 1970er Jahre. Damals verhängte die regierende CHP in der Türkei ein Kopftuchverbot für Schülerinnen, Studentinnen und Arbeitnehmerinnen in öffentlichen Einrichtungen.

„Dann werde ich meine Prüfungen bestehen, aber keine Universität wird mich annehmen.“ Yılmaz bereitet sich derzeit auf die Zulassungsprüfungen vor, um danach ein Studium aufzunehmen. Der Opposition würde sie niemals ihre Stimme geben, weil die ihrer Meinung nach offen religionsfeindlich ist.

Er setzt sich mit aller Kraft für meine Religion, meine Flagge und mein Heimatland ein. Wer das nicht sieht, ist schlichtweg blind.

Rümeysa Yılmaz, Schülerin aus Istanbul

Bei diesen Wahlen, sagt sie entschlossen, werde sie Erdoğan wählen. Dabei gehe es ihr nicht nur um ihre Religion, sondern auch ihre Nation – sowohl konservative als auch säkulare Strömungen in der Türkei sind oft patriotisch. „Er setzt sich mit aller Kraft für meine Religion, meine Flagge und mein Heimatland ein. Wer das nicht sieht, ist schlichtweg blind“, sagt Yılmaz.

Auch Mehmet Manaz ist gläubiger Muslim. Doch die AKP unterstützt er nicht, da sie seiner Meinung nach religiöse Gefühle für ihre politische Agenda ausnutze. Manaz lebt in der kurdischen Stadt Diyarbakır und hat die Schule nach der 7. Klasse abgebrochen. Heute arbeitet er in einem Imbissladen.

Er findet, dass alle Parteien im Land den türkischen Nationalismus als unangefochtene offizielle Ideologie des Landes nur neu interpretieren. Verändern würde sich aber trotzdem nichts.

Der eine schmeichelt dem Volk im Namen des Islam, der andere im Namen des Türkentums, der nächste im Namen des Kemalismus. Aber sie alle sind gleich.

Mehmet Manaz aus der kurdischen Stadt Diyarbakır

„Der eine schmeichelt dem Volk im Namen des Islam, der andere im Namen des Türkentums, der nächste im Namen des Kemalismus. Aber sie alle sind gleich“, sagt der 23-Jährige. Keine der Parteien gehe auf die Probleme und Bedürfnisse des Volkes ein. Deshalb erwartet Manaz nichts von den Wahlen – und boykottiert sie.

Er ist zwar Kurde, will aber nicht die als pro-kurdisch geltende Partei HDP wählen, die wegen eines kürzlich verhängten Parteiverbots unter der Grünen Linkspartei (YSP) antritt. „Wir Kurden wollen mit unserer eigenen Identität existieren und wollen kulturell nicht länger gedemütigt werden.“

Ihm sei es egal, welche Partei an die Macht kommt. Sie alle würden über eine Ideologie der Türkisierung nicht hinausgehen – auch die HDP nicht, die in seinen Augen als kurdische Linke der türkischen Linke unterstehe.

Esra Demir, ebenfalls aus Diyarbakır, sieht das anders. Sie hat kürzlich ihren Schulabschluss gemacht und will in diesem Jahr ihr Jurastudium beginnen. Die 19-Jährige darf zum ersten Mal wählen. Ihre Stimme will sie der HDP-Vertretung geben.

„Ich werde nie vergessen, wie glücklich die Menschen waren, als die HDP bei den letzten Wahlen in Diyarbakır die Zehn-Prozent-Hürde überschritten hat und ins Parlament eingezogen ist“, sagt Esra.

Die HDP thematisiert seit ihrem Einzug ins türkische Parlament regelmäßig Geschlechtergerechtigkeit und kritisierte in der Vergangenheit offen die Militäroperationen der Regierung.

Die junge Wählerschaft ist divers. Sie ist globalisierter, selbstbewusster, deutlich lauter – und zunehmend im Prozess einer Individualisierung. Der Konservatismus der letzten Jahrzehnte scheint in dieser Generation an Rückhalt zu verlieren.

Gleichzeitig gibt es aber auch patriotische junge Menschen, die parteiübergreifend den seit der Gründung der Republik bestehenden Leitsatz verinnerlicht haben: „Welch ein Glück, Türke zu sein“. Wie sich diese Mischung bei den Wahlen ausdrücken wird, bleibt offen.

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