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„Provokation als Geschäftsmodell?“ war der Titel der Fachkonferenz im Garten der Villa Schöningen.

© Ottmar Winter PNN/Ottmar Winter PNN

Die Ökonomie der Erregung: Lit:Potsdam diskutiert den Markt der Provokationen

Das Literaturfestival beginnt seine 11. Ausgabe mit der Frage: Wie steht es um die Wächterrolle der Medien in durchdigitalisierter Zeit?

Das diesjährige Motto des Festivals Lit:Potsdam gilt für vielerlei: die Mühen des Alltags im Kleinen, die menschliche Spezies im Großen, die Wetterlage im Konkreten. „This too shall pass“ ist die 11. Ausgabe überschrieben. Wind schüttelt die hohen Baumkronen im Garten der Villa Schöningen am ersten Festivalmorgen. Der Himmel grau. Viele der Stühle bleiben zunächst leer, später sorgen Regenschauer dafür, dass Gäste die Schirme zücken. Aber natürlich: Auch diese Schauer gehen vorbei.

Am Abend sollte sich „Nationalförster“ (Denis Scheck) und Bestsellerautor Peter Wohlleben an gleicher Stelle mit Jakob Augstein unterhalten, tagsüber aber wurde das Literaturfestival mit einem Digitaltag eingeläutet, zum dritten Mal bereits. „Provokation als Geschäftsmodell?“ war er diesmal übertitelt. Sein Thema: Die digitale Zukunft der Medienbranche. Organisiert wurde der Tag, wie schon 2021, von Christiane Munsberg und Klaus Kluge.

Schiller, Roche, Houellebecq - Veles

Die Eröffnung lag auch diesmal bei Christian Ehler, der für Brandenburg und die CDU im Europaparlament sitzt und selbst Co-Gründer des Potsdamer Festivals ist, wie er nebenbei erwähnt. Er führt an Friedrich Schiller, Charlotte Roche und Michel Houellebecq vorbei direkt nach Veles. Die mazedonische Stadt steht Ehler zufolge wie keine zweite für die perfektionierte „Ökonomie der Erregung“: 150 Domains seien dort beheimatet, die zumeist fiktionale News in die Welt pusten. Einziges Ziel: Gewinn. Das Zielpublikum: US-amerikanische Republikaner:innen. Die Klickbringer: frauenfeindliche, rassistische Inhalte. Hier schnurrt es, das Geschäftsmodell Provokation.

Während der Journalist Andrian Kreye (Süddeutsche Zeitung) in seinem Impulsreferat weitgehend anekdotisch bis aphoristisch bleibt („Shitstorm ist der Schnupfen, Cancel Culture die Lungenentzündung“), wird es anschließend konkret. Wie können traditionelle Medien digital ihrer Rolle als „Wächter der Demokratie“ nachkommen? Das sollen die Journalist:innen Knut Cordsen (Bayerischer Rundfunk), Livia Gerster (Frankfurter Allgemeine Zeitung) und Daniel Schulz (taz) erklären.

Qualitätsverluste in den Medien

„Man sollte das Gerüst hinter dem Gebäude sehen“, schlägt Schulz angesichts des Vertrauensverlusts vor, den Claas Relotius und Tom Kummer hinterlassen haben: Konjunktive nutzen, deutlich sagen, wer spricht. Nichts behaupten, was sich nicht belegen lässt. „Woher will man wissen, wer was zu welchem Zeitpunkt gedacht hat?“

Die Notwendigkeit, der Schnellste zu sein, führe zu einem Qualitätsverlust in den Medien, sagt Knut Cordsen. Journalismus weise zunehmend einen „aktionistischen Trieb“ auf, was „fatal und gefährlich“ sei. Die „Angst vor dem Beifall von der falschen Seite“, die Hans Magnus Enzensberger 1962 beobachtete, gelte heute mehr denn je. „So wird der politische Gegner zum Schiedsrichter des eigenen Denkens.“

Daniel Schulz, Autor von „Wir waren wie Brüder“, taz-Redakteur und gebürtiger Potsdamer, war auf dem Podium mit dabei.
Daniel Schulz, Autor von „Wir waren wie Brüder“, taz-Redakteur und gebürtiger Potsdamer, war auf dem Podium mit dabei.

© Ottmar Winter PNN/Ottmar Winter PNN

Dennoch, es ist nicht alles graues Gewittergrollen an diesem Vormittag. „Qualitätsartikel werden gekauft, das kann Hoffnung machen“, sagt Gerster. In vielen Medien werde investigativer Journalismus ausgebaut, sagt Schulz: „Damit ist der Wunsch verknüpft, einer Wächterposition nachzukommen.“ Und sei, so Gerster, nicht oft das als Aktionismus Beschimpfte einfach Haltung? KI will auch niemand als „apokalyptischen Reiter“ des Journalismus sehen, wie von Moderator Torsten Casimir vorgeschlagen.

Viel Einigkeit herrschte hier. Wo waren eigentlich Vertreter:innen jenes Journalismus, der die größte Expertise im Provozieren hat? Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender des Springer-Verlags und als Besitzer der Villa Schöningen Hausherr an diesem Tag, wäre eine Option, wenn auch im Kreise der Journalist:innen wohl eine Nummer zu groß gewesen. Vielleicht hatte man, anders als 2021, bewusst auf einen „agent provocateur“ verzichtet, um das Prinzip Provokation nicht zu füttern. Vielleicht erfüllte Harald Martenstein am Nachmittag noch diese Rolle. Vom Vormittag blieb jedoch als ein Eindruck: Man blieb unter sich.

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