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Die Band Tvorchi aus der Ukraine beim ESC in der Liverpool Arena.

© dpa/Aaron Chown

Ukrainisches Kriegstagebuch (134): Raketen auf Ternopil zum ESC-Finale

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

14.5.2023
Als ich von der Existenz des Eurovision Song Contests erfahren habe, hatte sich mein Musikgeschmack bereits geformt – ich stand auf den Garage Rock aus den 1960ern sowie auf amerikanischen und britischen Punk. Nirvana und ihre Mitstreiter aus Seattle fand ich ebenfalls gut. Die Wahrscheinlichkeit, unter den Teilnehmer*innen des ESC meine Lieblingsbands zu sehen, lag bei Null.

Ich war ein junger Maximalist, Pop und Disco habe ich verachtet. Als ich dann mit 25 plötzlich DJ wurde, war ich selbst überrascht. Allerdings handelte es sich bei den Sachen, die mein Kollege Wladimir Kaminer und ich in den frühen 2000ern in Berlin aufgelegt haben, nicht um Tanzmusik im üblichen Sinne.

Ich habe eigentlich nie selbst getanzt, und bin auch nicht in Discos gegangen. Also glaubte ich unseren Gästen, die behaupteten, es gäbe in der ganzen Stadt keinen anderen Ort, wo solche Musik laufen würde. Wir haben uns als musikalische Botschafter Osteuropas verstanden und für unsere DJ-Sets immer Tracks ausgesucht, bei denen deutlich zu hören war, dass sie nirgendwo anders auf der Welt hätten produziert werden können. Bei uns gab es weniger elektronische Beats und synthetische Bässe, dafür mehr Akkordeon, Geige und Bläser. Kein Drum’n’Bass, sondern Drunk and Brass!

Ruslans Karpathenfolksploitation begeisterte Europa

Als wir damit begannen, galt diese Musik in den Ländern, die noch vor wenigen Jahren zur Sowjetunion gehörten und bei ihren unmittelbaren Nachbarn eher als „alternativ“ – und dann, binnen weniger Jahre, wurde sie dort zum Mainstream. Entsprechend veränderte sich der typische Sound des ESC. Für mich fühlte es sich wie ein Zusammenstoß der Parallelwelten an, als 2005 die moldauische Band Zdob Si Zdub, deren Lieder wir auf jeder unserer Partys auflegten, beim ESC mitmachte. Die Jungs aus Chisinau rockten die Finalrunde, die übrigens in Kiew stattfand, weil die Ukraine ein Jahr davor bei der Eurovision gewonnen hatte.

Ja, 2004 war es eine Offenbarung, Ruslana mit „Wild Dances“ zu beobachten. Der an den Westen orientierte Ethnopop mit solidem Bass, guter Choreografie und sexy Outfits – die Reaktion der Europäer auf die Karpathenfolksploitation war euphorisch.

In den letzten 15 Jahren hat es sich immer so ergeben, dass ich am Abend des ESC-Finales selbst auftrat. Auch dieser Samstag war keine Ausnahme, nach einer langen Pause spielte meine Band RotFront bei einer geschlossenen Veranstaltung in Berlin. Als ich Anfang der Woche die Setlist für uns zusammenstellte, habe ich alle Stücke gestrichen, in denen ich russisch gesungen habe. Auch wenn ich damit aufgewachsen bin, fühlt es sich heute falsch an, in der Sprache des Aggressors zu singen. Ich wünsche mir, mit ihm so wenig wie möglich teilen zu müssen.

Beim Konzert gingen mir manchmal Sachen durch den Kopf, die noch vor ein paar Jahren unvorstellbar gewesen wären: Singt man heute den Song über den Rabbi Nachman zum Beispiel, so ist es unmöglich, nicht an Uman zu denken, wo sein Grab zur Pilgerstätte der Chassiden aus der ganzen Welt wurde. Vor zwei Wochen starben dort 15 Menschen bei einem russischen Raketenangriff, darunter waren zwei Kinder…

Um am Sonntagmorgen vom ESC-Finale zu lesen, bevorzuge ich meinen Facebook-Feed, der mir mehrere Perspektiven bietet. Ein israelischer Freund schreibt, die Nummer von Finnland sei stärker als die von Schweden gewesen, meine deutsche Mitbürger*innen regen sich über den letzten Platz auf, viele fanden Let 3 aus Kroatien toll. 

Tvorchi, die dieses Jahr beim ESC Ukraine vertreten, kommen aus Ternopil – Samstagabend wurde ihre Stadt von russischen Raketen beschossen. Ich schreibe meinen Freund und Kollege Lesik Omodada an, der in Ternopil lebt, frage, ob es ihm und seiner Familie gut geht. Er ist gerade unterwegs mit Pyrig i Batig, schreibt er zurück, und Raketenangriffe gab es bei den letzten zwei Auftritten, nicht nur gestern in Ternopil, sondern auch vorgestern in Chmelnyzkyj.

Ist das russlands Eurovision-Beitrag gewesen, frage ich mich? Doch The russian Rockets werden mit „Attack on Ukraine“ die Eurovision nie gewinnen, so viel ist sicher!

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