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 „Filles-Pétroles“ (Petroleummädchen) Tanztage Potsdam

© Malan-Ange Gael

Tanztage in Potsdam: Vom Kneten und Zertreten normierter Körperbilder

Bei den diesjährigen Tanztagen in Potsdam stehen die Frauen im Zentrum. Dabei treffen künstlerisch und thematisch sehr unterschiedliche Arbeiten aufeinander.

Von Astrid Priebs-Tröger

Bei den diesjährigen Tanztagen in Potsdam haben die Frauen das Zepter fest in der Hand. Von den zwölf eingeladenen Inszenierungen stammt der Großteil von Choreografinnen. Am Montag- und Dienstagabend trafen zwei der künstlerisch und thematisch sehr unterschiedlichen Arbeiten aufeinander.

Nadia Beugré, eine ivorisch-französische Choreografin, hat mit zwei Frauen aus dem Abobo-Viertel, einem Einwandererquartier in der Großstadt Abidjan in der Elfenbeinküste, ihre sehr vitale und vielschichtige Weiblichkeitsperformance „Filles-Pétroles“ (Petroleummädchen) im T-Werk zur Deutschlandpremiere gebracht.

Darin performen zwei sehr unterschiedliche Frauen: Anoura Aya Labarest mit dem Spitznamen „die Chinesin“ und Christelle Ehoué, genannt „großer Lastwagen“, sind Urban Dancers. Beide sitzen am Anfang an der Bühnenrückwand und kneten zusammen emsig an einem riesigen Teig.

Dabei scherzen und plaudern sie und scheinen eine Menge Spaß an dieser traditionell weiblichen Tätigkeit zu haben. Das ändert sich auch nicht, als sie den großen unförmigen Klumpen abwechselnd wie ein Baby wiegen und sich ihn auch gegenseitig zuwerfen.

Eine Szene aus „Harmonia“, der gerade preisgekrönten Choreografie der Ungarin Adrienn Hód.

© Joerg Landsberg

Doch als die drahtige Jüngere der großen Kräftigen aus dem Teig quasi Fußfesseln anlegt, wird klar, dass sich beide nicht für diese traditionelle Rolle interessieren. Denn schon als Mädchen haben sie sich fürs urbane Tanzen – einen traditionell männlichen Raum – entschieden und arbeiten mit ungeheurer Energie daran, diesen umkämpften Raum sehr selbstbewusst zu füllen.

Die Frauen kneten, boxen, treten und fetzen

Temperamentvoll, frech und unverblümt, aber auch wütend und widerständig kneten, boxen, treten und fetzen sie sich durch ihren (Lebens-)Teig und nehmen das Publikum mit in die pulsierende Millionenmetropole der Elfenbeinküste, die sich auf der T-Werk-Bühne mal wie eine Küche, mal wie eine Arena und dann wieder wie ein Jahrmarkt oder ein Circus anfühlt.

Diese Produktion war die zweite mit afrikanischen Protagonist:innen, die keine akademische Tanzausbildung, sondern einen unkonventionellen Weg gewählt haben, der aufs Engste mit ihrer eigenen (Migrations-)Biografie verbunden ist. Nadia Beugré, die bereits mit anderen Arbeiten in Potsdam war, sieht zudem das widerständige Potenzial dieser beiden, das sich mit ihrem eigenen Entwicklungsweg als frauenrechtsbewegte Choreografin verbindet.

Diversität und Bodypositivity zeichnen auch die professionelle mixed-abled Tanzkompanie des Theaters Bremen aus, die mit „Harmonia“ – der gerade preisgekrönten Choreografie der Ungarin Adrienn Hód – am Dienstagabend in der fabrik zu Gast war.

Keine herkömmlichen Körpernormen

Dort erwartet die Besucher:innen eine Arena mit Sporthallenatmosphäre. Ein freundlicher junger Mann bewegt sich stehend und sehr vorsichtig an einer niedrigen Reckstange. Vier Paare in Sportklamotten dehnen sich zumeist auf dem Boden liegend in Partnerübungen. Später massieren sie einander oder lockern ihre Muskeln, manchmal laut klatschend. Alles geschieht langsam und mit sehr großer Achtsamkeit füreinander. Ein Rollstuhl steht in einer Ecke.

Nach und nach entdeckt man sichtbare Behinderungen und Körper, die nicht in herkömmliche Körpernormen passen. Doch in deren andauerndem Zusammenwirken spielt dies keine Rolle. Denn diese Trainingspaare scheinen sich sehr gut zu kennen und haben sowohl die eigenen Grenzen als auch die gemeinsamen Möglichkeiten sehr genau erkundet.

Harmonie bedeutet im Sprachgebrauch sowohl Übereinstimmung als auch Ebenmaß und Zusammenfügung. Im Stück der Bremer Tanzkompanie gelangt dies über mehrere Etappen zur grandiosen Umsetzung. Im mittleren Teil der ungemein kraftvollen Performance, als alle nur noch Unterwäsche anhaben und nach den Paaraktionen jetzt vereinzelt auf der Bühne sind, wird beim Zuschauen beinahe schmerzhaft deutlich, wie sehr alle zusammenhängen und einander brauchen. Die Vereinzelung tut niemandem gut und die wunderbaren Synergien, die vorher zu spüren waren, scheinen verloren.

Spontan finden sich neue Tanzpaare

Vollends lebensprall und direkt ins Herz zielend wird „Harmonia“, als sich zu fetzigen lateinamerikanischen Rhythmen spontan neue Tanzpaare finden, die gerade aufgrund ihrer Verschiedenheit großartig zusammenpassen und immer wieder zeigen, wie wichtig auch Fantasie und Vorstellungskraft sind, um das scheinbar Unmögliche möglich zu machen. Sinnlichkeit und Erotik eingeschlossen. Was in sogenannten inklusiven Projekten respektive in der Gesellschaft immer noch nicht selbstverständlich ist.

Hier war es zu erleben und das Potsdamer Publikum feierte die internationalen Bremer Tänzer:innen Aaron Samuel Davis, Florent Devlesaver, Gabrio Gabrielli, Paulina Porwollik, Leisa Prowd, Tamara Rettenmund, Nora Ronge, Andor Rusu, Young-Won Song und Károly Tóth mit Begeisterungsrufen.

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